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VOM "P" ZUM "L", ODER: WIE MAN DIE PANDEMIE PRODUKTIV BEWÄLTIGT (ERSTVERÖFFENTLICHUNG) Tom de Toys "L"OCKDOWN-TO-EARTH (in Gedenken an Peter Rech)* nach nur einem monat abstinenz von der routine nur vage erinnerung an die vertrautheit und selbstverständlichkeit der umgebung was früher normal und gewollt war bewirkt heute noch nicht einmal nostalgie ICH vermisse das meer und den strand und die ausgangssperre die permanenten inzidenzwerte als unterhaltungsprogramm gegen die langeweile im homeoffice tag null nach der pandemie ohne quarantäne ohne die toten ohne das ewige warten geimpft und verschont orientierungslos aber leibhaftig vorhanden ein geistloser geist in einem mit insolvenzmarken bekleideten körper antiquarischer eleganz sogar die zu großen schuhe schon winterfest mitten im aufkeimenden frühsommer mit neuen und unbekannten insekten vögeln eichhörnchen autos und maskenpflicht als ob wir die eigene totenmaske benötigen um das gesicht als das unsere zu bemerken ich spüre die rückkehr in diese verlassene stadt mit gemischten gefühlen meine bürgerliche ID ist auf der berühmten strecke geblieben die wohnung gleicht einem feriendomizil meine handlungen sind die eines nachlassverwalters wo ist dieser mensch den man im spiegel erkannte die augen und haare sind ähnlich und doch stimmt etwas nicht unter der maske herrscht chaos verwirrung unendlichkeit das getöse der sterne und galaxien rückt näher als der geruch des grundlosen kaffees ich werde nun nicht mehr gebraucht bin ein mundtoter hoffnungslos sehnsüchtiger sitzengebliebener kandidat einer reality show die sich gesellschaft nennt dieses jahrtausende alte open-air livestream system mit religionen konsumgütern und täglichem wetterbericht ein sich selbst generierendes tröstungssystem das seine eigene zukunft vorwegnimmt bevor seine bewohner hinein wachsen können die babys schreien sich ihre unschuldige kehle aus dem kokonartigen miniaturleib ihre mütter stopfen die kleinen mäuler mit gummibärchen notdürftig geduldet bevor matheformeln und fremdsprachen das neuro- nale giganetz erweitern dessen mittelpunkt immer kurz dort aufglimmt wo diese mystische hintergrundstrahlung des uns allzu bekannten universums zu schwach wird um eine sinn- haftigkeit zu erkennen die letzte erleuchtung über das leben an sich hat den umfang einer bodenlosen schale voller roter rosen die niemals leer werden kann solange wir an offenen gräbern atmen und die regale mit spritzgebäck und plastikkitsch füllen
Tom de Toys, 31.5.2021 (14-16h) @ http://www.slampoesie.de Teil 2: als Poetryclip für 2022 geplant!
Zum Autor: De Toys (*1968) erarbeitete während des Coronalockdowns 2020 das multimediale Buchprojekt „RU[H]R RÄTSEL“ (www.nahzone.de) und für das Schulministerium das didaktische PDF „LERN:LYRIK“ (www.schulgedichte.de), das sich über die neue Bildungsmediathek NRW für den Deutschunterricht abrufen lässt. Neuerdings präsentiert De Toys ausgewählte Poetryclips auf TikTok: https://www.tiktok.com/@poplyrik
*) Das „L“ im Gedichttitel bezieht sich auf eine Zeile im Gedicht „P“ von Peter Rech, das De Toys vor 12 Jahren anlässlich der LYRIKMAIL-Publikation rezitierte:
NACHRUF AUF PETER RECH (21.5.1943 – 5.12.2019) @ https://poesiepreis.jimdofree.com/preistraeger/9-nahbellpreis-2008-peter-rech/
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