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Noch einmal Adelaide Crapsey. Ich finde es wunderbar, dass der gestrige Beitrag mehrere Versionen ihres Gedichts gebracht hat. Das Cinquain ist einerseits von japanischen Gedichten inspiriert und andererseits eng mit den amerikanischen Modernisten verbunden, ich nenne Ezra Pound und Hilda Doolittle (H. D.). Ich finde, ein wunderbares Zusammenfallen von asiatischer Kunst, westlichem Modernismus und zugleich eben doch – zumindest beim Cinquain – Eingängigkeit bis hin zum didaktischen Cinquain. Eher Zugänglichkeit als Hermetismus.
Heute ist der Geburtstag von H. D., aber ich bringe noch einmal Adelaide Crapsey. Ein Fünfzeiler, ich weiß nicht, ob sie ihn als Cinquain bezeichnet hat, er hält sich nicht streng an Silbenzahlen, aber ähnelt dieser Form doch sehr. Das Gedicht behandelt die biblische Gestalt der Judith (die auch für die junge Barockdichterin Sibylla Schwarz um 1637 Leitfigur war).
Adelaide Crapsey
(1878-1914)
Judith Israel! Wake! Be gay! Thine enemy is brought low— Thy foe slain—by the hand, by the hand Of a woman!
Meine Rohübersetzung:
Judith Israel! Freu dich! Wach auf! Dein Feind, er liegt im Staub – Er liegt erschlagen von der Hand, von der Hand einer Frau!
Sibylla Schwarz
(1621-1638)
Aus einem Glückwunschgedicht für ihre beste Freundin Judith Tanck. Es ist während des Dreißigjährigen Kriegs, Mars hält das Land in eisernen Banden, Judith soll helfen. Abra, Hebräisch = Magd, ist in Luthers Bibelübersetzung Judiths Magd. Die Dichterin schreibt sich als Abra in den Kampf gegen Mars ein, zwei junge Frauen sollen den Krieg der Männer beenden. Was für eine kühne, verzweifelte Utopie.
Jn summa / was du siehst in diesem grossen Runden / Ja selbst das grosse Rundt / ist durch und durch gebunden / O Mars / durch deinen Bandt / du ungebetner Gast Hast unser armes Landt ietzt grausahm umbgefast. Wer hilft uns doch von dir ? Jst dann kein Raht zu finden ? Vor hat ein Weibesbildt die Waffen künnen binden / O Freundin thu du auch / was Judith vor gethan / Nimb / nechst dem Nahmen / auch der Judith Thaten an ! O Judith / Judith / komb / und hilf uns ietzt auß Nöten / Weil Holofernes Här uns gäntzlich fast will tötten ! Komb / uns verlangt nach dier / thu wegk den Weiber=Muth / Dem gantzen Vaterlandt / und dir und mir zu guth ! Komb / komb / es ist schon Zeit / sonst sint wir balt verlohren / Wir haben ja den Wolff itzund schon bey den Ohren ! Komb / Holofernes geht / beladen von dem Wein / Komb / komb / hier ist ein Schwert / kom / ich wil Abra sein !
Aus: Auff Jungfer Judith Tanckin Namenstagk, in meiner Ausgabe #61. Der erste Band wird in diesem Herbst erscheinen, der zweite im Jahr des 400. Geburtstags der Dichterin Sibylla Schwarz, 2021.
Judith
Israel!
Erwache! Juble!
Dein Feind, er liegt entehrt—
Dein Widersacher ist erlegt—von Hand
Von Weibeshand!
Adelaide Crapsey
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