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Jakub Deml (20. August 1878 Tasov, Tschechien, damals Österreich-Ungarn – 10. Februar 1961 Třebíč)
Der Blinde geht durch die Welt Vielleicht erweckt es den Anschein, als könnte ich sehen, denn im Grunde genommen geh ich wie andre Leute umher, nur mehr Ärgernis erreg ich, weil ich wirklich nicht sehe und jeder, den ich anrempele, glaubt, es geschehe absichtlich, aber diese Richtung meines Weges wird durch das Gesetz meiner Schwere bestimmt, nicht aber durch das Gesetz meiner Person, welche blind ist, so daß es in Gegenwart von Kindern, ja von Erwachsenen oft geschieht, daß ich Dinge rede, welche zum Lachen sind und an denen meine Seele überhaupt nicht festhält, denn ohne Sehkraft geh ich noch dorthin, wo niemand mehr steht, ja, mein Gott, dort öffne ich mein Herz, wo alles ganz leer ist! Nichts andres bleibt mir übrig, weil ich wirklich nicht sehe, nur die Bäume betaste ich und gute Leute frag ich, ob sie einem Menschen begegnet sind, der nicht aus dieser Gegend war, denn ich hab Angst zu sagen, daß es kein Mann ist — und ob er sich nicht nach mir erkundigte...! Wahre Verrücktheit, denn ein Verstorbener erkundigt sich nach nichts mehr! Aber so geh ich durch die Welt, mit den Kindern plaudere ich und mit Freunden Hunden, streichle ihren Rücken lehre sie beten, ganz vergebens, beneide die Vögel, mir einredend‚ daß sie verzaubert sind und daß ich in ihnen erkenne, was ich geliebt habe, oh Gott, mein Gott!
Deutsch von Ludvík Kundera
Aus: Die Sonnenuhr. Tschechische Lyrik aus 11 Jahrhunderten. Teil 3: 1900-1950. Hrsg. Ludvík Kundera. Leipzig: Reclam, 1987, S. 173f
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