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Zeitschriftenschau von Gregor Dotzauer bei Literaturport, Auszug:
Nicht jedes Stück Literatur entsteht im Vollbesitz geistiger Kräfte. Fortgeschrittene Absichtslosigkeit oder andere Zustände zwischen Bewusstseinserweiterung und Bewusstseinstrübung gehören zu Dispositionen, die Computerprogrammen fremd sind. Andererseits sind Hendrik Jacksons „20 Knittelverse, geschrieben aus Anlässen von Trunkenheit und Verdruss im Schwarz-Sauer zu Berlin“ nicht viel mehr als kombinatorische Fragmente: auf die Pointe reduzierte Reimereien, die in ihrer pseudoepigrammatischen Nacktheit an die Gedichte, die zwischen Peter Rühmkorf und Robert Gernhardt, Fritz Eckenga und Ror Wolf in diesen Zeiten so geschrieben werden, nicht heranreichen. Oder ist es unverstandenes Ingenium, wenn man Verse wie „dort stand / – Augen wie ein Panda – / Otto Sander“ oder „ich war früher einmal Novalis / was irgendwie auch egal ist“ allenfalls für einen Ausbund an Witzischkeit hält?
Anzunehmen ist, dass auch die Verse des pseudonym auftretenden Christo Walross Willems in Anfällen spätabendlicher Kritzellaune entstanden sind. Sie sind jedoch in des Wortes bester Bedeutung schwachsinnig: in seinen wortverdreherischen Kapriolen mit einem ironischen Glimmen ausgestattet, das geeignet ist, so manchen Prätentionsgroßmeister armselig aussehen zu lassen. Die genaue Herkunft des 36-teiligen Zyklus unter dem schönen Titel „Pilsner Urknall!“ ist ein Rätsel. Die Spur endet bei Hamburger Designstudenten, die ihn als Material für ein typografisches Projekt nutzten. Wer immer dahintersteckt – er stammt von einem eifrigen Poesieleser. Anders lässt sich auch die Abwandlung von William Carlos Williams‘ berühmtem Pflaumen-Gedicht nicht erklären: „Ich habe die Kinder gegessen / die im Spielzimmer waren, // Du wolltest sie sicher / fürs Frühstück aufheben. // Verzeih mir sie waren herrlich, /so klein und so kalt.“
Die „Akzente“ gibt es mittlerweile im 62. Jahrgang – und zugleich im ersten der Post-Michael-Krüger-Epoche. Die „Metamorphosen“, aus einem untergegangenen Heidelberger Studentenprojekt zu neuem Leben erweckt, gehen unterdessen ins vierte Jahr. (…) Die „Metamorphosen“ sind ein Forum der Dreißigjährigen, geprägt von einer Offenheit, die sowohl die hochkulturelle Seriosität betonen will, mit der die eigenen Altersgenossen zu Werke gehen, wie den Spieltrieb der Popahnen. Kerstin Grether blickt auf ihr Debüt „Zuckerbabys“ (2004) im zurück, während Bea Y. Höfgen mit hermeneutischer Inbrunst an Gedichten aus dem „Jahrbuch der Lyrik“ herauszuarbeiten versucht, wie haltlos der Bravheitsverdacht gegenüber der Generation Y ist – und muss sich dann doch mit dem Befund einer „Pluralität als Grundtendenz“ bescheiden. Immerhin sammelt sie einige lesenswerte Gedichte ein, darunter auch eines von Levin Westermann, der sein Luxbooks-Debüt von 2013 in „Edit 68“ um eine Auswahl unheimlicher Landschaftsgedichte ergänzt: „Über Nacht / haben sie den Wald / mit Wald ersetzt, / die Vögel / mit Vögeln, den Fuchs / mit einem Fuchs“, beginnt es. Man kann lange darüber nachdenken, ob solche Beobachtungen auch Maschinen machen könnten.
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