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Zwei Auszüge:
Es braucht nicht den Blick auf den ironischen, als Motto fungierenden Satz des französischen Philosophen Michel Serres, um bei der Lektüre der Gedichte früh zu erkennen, dass der Hintergrund der Poetik Callies’ ein philosophisch-dekonstruktivistischer ist: „Die Konstruktion des Körpers gleicht der Erfindung des Einhorns.“ Man tut vielleicht gut daran, Callies mit George Bataille, Jean-Luc Nancy und Hélène Cixous zu lesen, wobei es sehr bedauerlich ist, dass man, um ein zeitgenössisches Werk wie das von Callies literaturkritisch zu vermitteln, noch immer Begriffe wie ‚Obszönität‘ oder ‚Tabu‘ bemühen muss. Schließlich ist das, was hier auf dem Spiel steht, von je her natürlich. Warum sollte man etwas zu enttabuisieren versuchen, was kein Tabu sein dürfte?
(…)
Selbst bei den Frankfurter Lyriktagen, die kürzlich stattgefunden haben, wurde danach gefragt, ob es so etwas wie „weibliche Verse“ gibt. Zugegeben, bei manchen Gedichten Callies’ tendiert man zur Überlegung, das hätte ein männlicher Dichterkollege so nicht schreiben können. Die Hinweise reichen aber nicht aus, um diese Überlegung fortzusetzen. Hélène Cixous würde in diesem Zusammenhang von der „écriture feminine“, der weiblichen Schrift sprechen. Bei der Auslegung der Gedichte Callies’ wäre es aber vielleicht angemessener, von der Weiblichkeit in der Schrift, ob männlich oder weiblich, zu sprechen: „wir zögerten nie, uns mit blut zu bewerfen / & boten uns gar ganze zyklen von an“ (aus „zwei enden eines jedweden stranges“). Cixous dazu: „Die Frau lässt sich gehen, sie fliegt, sie geht ganz und gar in ihre Stimme ein; mit ihrem Körper unterstreicht sie die Logik ihrer Rede, ihr Fleisch sagt die Wahrheit. Sie exponiert sich. Tatsächlich materialisiert sie fleischlich, was sie denkt, sie bedeutet es mit ihrem Körper.“ Und weiter: „Frauenstürmerisch sind wir, was unser ist, löst sich von uns ab, ohne dass wir fürchten dadurch geschwächt zu sein. Unsere Blicke ziehen davon, unser Lächeln läuft, das Lachen all unserer Münder, unser Blut rinnt und wir verströmen uns ohne uns zu erschöpfen.“ (Beide Zitate aus „Das Lachen der Medusa“.) Es ist nicht eindeutig zu sagen, wie es in dieser Hinsicht um die Gedichte von Callies bestellt ist. Sicher ist nur, hier spricht eine selbstbewusste Stimme, die, wenn man sich auf sie einlässt, mit Haut und Haar einlässt, einen berührt. Und auch dann ist man berührt, wenn man peinlich berührt wird – ein Punkt, an dem man merkt, wie schwer die christliche Moral noch immer auf unseren Schultern lastet.
/ Alexandru Bulucz, Signaturen
Carolin Callies: fünf sinne & nur ein besteckkasten. Gedichte. Frankfurt am Main (Schöffling & Co.) 2015. 112 Seiten. 18,95 Euro.
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