80. Nicht verloren

Serhij Zhadan, 1974 in Starobilsk/Gebiet Luhansk (Ukraine) geboren, ist der populärste ukrainische Lyriker seiner Generation. Er promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört zu den Akteuren der alternativen Kulturszene in Charkiw. Seit 1995 publizierter er zahlreiche Gedichtbände, seit 2003 auch Prosa. Im Frühjahr 2012 erschien die von ihm herausgegebene Anthologie „Totalniy Futbol. Eine polnisch-ukrainische Fußballreise“ im Suhrkamp Verlag.

In einem Beitrag bei ostpol zieht er seine Bilanz. Auszug:

Immer wieder bekomme ich zu hören: „Wenn du gewusst hättest, wie das alles ausgeht – wärst du dann im Herbst 2013 auf die Straße gegangen?“ – „Natürlich wäre ich auf die Straße gegangen“, antworte ich. (…)

Heute schlagen mir immer öfter defätistische Stimmungen entgegen: Wofür die ganzen Opfer gut gewesen seien? Ob es das wert gewesen sei? Was hätten die Ukrainer für die Revolution bekommen? Die einen Oligarchen wurden von den anderen abgelöst, Reformen werden nicht durchgeführt, die Wirtschaft ist kaum lebensfähig, und das Allerschlimmste kommt noch hinzu: der Krieg. Ein Krieg, der real stattfindet und inzwischen ausnahmslos alle betrifft.

Man mag sich in solchen Fällen fragen, ob man Janukowitsch und sein Gefolge nicht besser hätte ertragen sollen? Dann hätte es wenigstens keine Toten gegeben. Meistens wird eine solche Sicht vorsätzlich in den Informations- und Kommunikationsraum in Umlauf gebracht, sie ist Teil jenes endlosen und zermürbenden Informationskrieges, in den wir alle hineingezogen worden sind. Natürlich gibt es in Informationskriegen keine Toten und Gefangenen, aber am Ende steht man trotzdem mit Verlusten da.

Man versucht uns von der Sinnlosigkeit dessen zu überzeugen, wofür wir einstehen. Man versucht uns taktvoll und diskret davon zu überzeugen, dass unsere Bemühungen, wichtige und prinzipielle Dinge zu verteidigen, naiv seien. Man raunt uns zu: Für euch ist alles schon entschieden, alles ist schon gekauft, verkauft und wieder gekauft worden. Veränderungen haben doch überhaupt keinen Sinn. Und Veränderungen sind auch gar nicht möglich – alles wird so werden, wie es jene wollen, die kaufen, verkaufen und wieder kaufen. Man hat euch alle wieder einmal nur benutzt. Und ihr glaubt das alles nur nicht, weil man euch höchst professionell benutzt hat. Erst durch uns werden euch die Augen geöffnet, weil wir auf die ganze Sinnlosigkeit und Perspektivlosigkeit eurer Hoffnungen und Wunschträume hinweisen.

(…)

Die Ukraine zahlt heute tatsächlich einen sehr hohen Preis für ihr Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung. Sie zahlt es täglich: mit dem Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger, mit abgebrannten Städten, mit Hunderten Flüchtlingen und Dutzenden Verletzten. Ich weiß nicht, was die Ukrainer Ende November 2013 gesagt hätten, wenn sie gewusst hätten, dass alles mit russischen Panzerkolonnen im Donbass enden wird – wären sie dann demonstrieren gegangen oder hätten sie zu Hause auf die nächsten Präsidentsschaftswahlen gewartet?

Etwas sagt mir, dass sie demonstrieren gegangen wären. Denn hinter der Ablehnung eines Weiterlebens in einem postsowjetischen, durch und durch korrupten und überholten Staatssystem hat nicht das US-amerikanische Außenministerium gestanden, und es kann auch niemals dahinter stehen, und es gibt auch keine Verschwörung gegen Russland.

Die Ukrainer waren vor einem Jahr mehrheitlich der Meinung und sie sind es noch jetzt: Sie haben das Recht, ihre Zukunft, die Zukunft ihrer Kinder und ihres Landes selbst zu bestimmen. Und für meine Kinder und mein Land zu kämpfen hat immer einen Sinn. Sogar, wenn es sehr schwer ist. Sogar, wenn der Kampf ein sehr langer zu werden scheint. Sogar, wenn man versucht, mich davon zu überzeugen, dass es keinen Sinn hätte zu kämpfen. Wie sagte Brecht? „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Deshalb hat die Ukraine nicht verloren.

Übersetzung aus dem Russischen: Anna Burck

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