79. »Niemand hört der Dichtung zu«

Nach dem Tod Walt Whitmans (1892) wollte die US-amerikanische Lyrik lange Zeit nicht mehr bekennen. »Ich feiere mich selbst, ich singe mich selbst« – das sollte für mehrere Jahrzehnte nicht mehr möglich sein. Aber es ist auffällig, wie von Whitman völlig unterschieden der Begriff »Bekenntnis« von T. S. Eliot, Ezra Pound oder Charles Olson aufgefasst worden ist. In einem Essay postuliert Eliot: »Dichtung ist nicht das Freisetzen von Gefühl, sondern eine Flucht vor dem Gefühl; sie ist nicht der Ausdruck von Persönlichkeit, sondern die Flucht vor der Persönlichkeit. Aber selbstverständlich können nur diejenigen, die Persönlichkeit und Gefühle haben, wissen, was es bedeutet, vor diesen zu fliehen.« …

Es ist die große Kunst des »Song of Myself«, dass sich hier zwar eine ganz besondere Persönlichkeit ausspricht, die auch im Gedicht selbst Walt Whitman heißt, ein entschiedener Demokrat und Freigeist ist, 37 Jahre alt, Männer liebt, einen entlaufenen Sklaven beherbergt hat usw., aber jedem »Der und der bin ich« ein »Der und der und der könnte ich auch sein« folgt. Wie auf den Fotoporträts von August Sander ziehen sämtliche Gewerke und Typen der Vereinigten Staaten vorüber, und von all diesen singt dieses Lied, denn »Ich bin riesig, ich umfasse Mengen« (I am large, I contain multitudes). »Walt Whitman, ein Kosmos«. …

Berryman hat sich zwar für Whitmans Persönlichkeit und gegen Eliots Unpersönlichkeit erklärt, jedoch hinzugefügt, im Gedicht spreche niemals der tatsächliche Autor, »mit Adresse, einer Sozialversicherungsnummer, Schulden, Vorlieben, Erinnerungen, Erwartungen«. Allerdings heißt es in seinen »Antitheses« von 1971: »Ich wohne in der Arthur Ave., S.E., Nr. 33 / &schreibe meist von hier.//Mein Schaukelstuhl ist dunkelblau, steht in einer Ecke / &wackelt, während meine Gedanken dahintreiben. / Der teurere Schaukelstuhl meiner Frau, mit Flickendecke, / steht fünf Fuß entfernt&wackelt nicht.« In demselben Gedicht enthüllt er auch, welche Bücher von Victor Hugo er schätzt und dass W.H. Auden, als er ihn zum ersten Mal traf, zwei unterschiedliche Socken trug. Es fehlen also nur noch die Sozialversicherungsnummer und der Kontostand.

Doch werden diese Offenbarungen so faktisch und feststellend gegeben, dass man dieses Gedicht mit einem von Reznikoff oder Williams verwechseln könnte. Auch stellt sich die Frage, ob der »Walt Whitman«, der in Whitmans Gedicht vorkommt, mit dem Autor identisch sein kann, und ob der Leser eines so anspielungsreichen Gedichts wie »Antitheses« bei »Arthur Ave.« lediglich an eine Straße in Minneapolis und nicht auch an den König der Artus-Sage denkt. Es stellt sich also die Frage, was einer autobiografischen Information widerfährt, wenn sie in ein Gedicht, nicht nur ein bekennendes, eingeht. …

»Niemand hört der Dichtung zu«, heißt es in einem Gedicht Spicers; ein Vers, den nur verstehen kann, wer ihm genau zuhört. Je stärker das Gedicht, umso weniger berichtet es, umso weniger verpflichtet es. Es verpflichtet nicht nur nicht zu einer Reaktion, es führt sie ad absurdum. Das Bekenntnisgedicht skandalisiert diesen Umstand, denn es ruht nicht in sich, sondern schreit ins Leere oder hustet in den Wind. Die Bekenntnisse Berrymans sind kein lyrischer Ersatz für Beichten und Bitten, sondern klangvolle Manifestationen ihres Verstummens.

Insofern sind sie von den »dead letters« oder unzustellbaren Briefen der Gedichte Spicers gar nicht so weit entfernt, auch wenn diese Briefe ohne Absender abgeschickt worden sind. Spicer hat zum Vergnügen seines sehr kleinen Publikums stets behauptet, seine Gedichte stammten gar nicht von ihm selbst, sondern seien ihm von Marsianern diktiert worden. Zwar träten die Aliens in sein Zimmer ein, ließen sich in seinem Mobiliar, nämlich seinen Wörtern, nieder, drückten deshalb ihre Botschaften in seinem Stil aus, aber er selbst beschränke sich als Dichter darauf, Empfänger, Briefkasten, Radio zu sein. / Stefan Ripplinger, Jungle World

Ripplingers Quellen:

John Berryman: »The Freedom of the Poet«. New York 1976 (darin auch »The Imaginary Jew« (1945); meine Übersetzung dieses Texts: http://jungle-world.com/heuteblog/200/)

Ders.: »Collected Poems 1937–1971«, hg. v. Charles Thornbury. New York 1989

Ders.: »The Dream Songs«. New York 2007

Robin Blaser: »The Fire. Collected Essays«, hg. v. Miriam Nichols. Berkeley u.a. 2006

Michael Davidson: »Incarnations of Jack Spicer: ›Heads of the Town up to the Aether‹«, »Boundary 2«, 1/Herbst 1977

Eric Downing: »Artificial I’s. The Self as Artwork in Ovid, Kierkegaard, and Thomas Mann«. Tübingen 1993

T. S. Eliot: »Prufrock«, in ders.: »The Complete Poems and Plays«. London 1969

Ders.: »Tradition and the Individual Talent«, in ders.: »Selected Essays«. London 1997

Lewis Ellingham und Kevin Killian: »Poet Be Like God. Jack Spicer and the San Francisco Renaissance«. Hanover, London 1998

Adam Kirsch: »The Wounded Surgeon. Confession and Transformation in Six American Poets«. New York, London 2005

Robert Lowell: »John Berryman«, in ders.: »Collected Prose«, hg. v. Robert Giroux. New York 1987

Charles Olson: »Selected Writings«, hg. v. Robert Creeley. New York 1966

Charles Reznikoff: »Holocaust«. Boston 2007

Jack Spicer: »The House That Jack Built. The Collected Lectures«, hg. v. Peter Gizzi. Middletown 1998

Ders.: »My Vocabulary Did This To Me. The Collected Poetry«, hg. v. Peter Gizzi und Kevin Killian. Middletown 2008

Peter A. Stitt: »The Art of Poetry No. 16. John Berryman« (Interview), »The Paris Review«, 53/Winter 1972

Walt Whitman: »Song of Myself«, in ders.: »Leaves of Grass« (Deathbed Edition). München 1987

Louis Zukofsky: »Prepositions +. The Collected Critical Essays«. Hanover, London 2000

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