56. Vorbild

Eigentlich war sie eine jüdische Bankierstochter aus Elberfeld. Geboren 1869. Assimiliertes deutsches Bürgertum, Klavier, Gouvernante, Lektüre. Die Mutter, beinahe noch in der Goethezeit geboren, liest nichts als Goethe. Sitzt mit ihrer jüngsten Tochter irgendwann im späten 19. Jahrhundert in Elberfeld am Rosenholztisch und dichtet mit ihr. Wenig später geht die Tochter nach Berlin, verlässt Elberfeld und die Goethezeit mit Siebenmeilenstiefeln, frequentiert die Berliner Cafés, gerät in den Sturm, die große Umwälzwoge der Jahrhundertwende, schreibt Gedichte, Prosa und Theaterstücke, heiratet, lässt sich scheiden, heiratet erneut, hat einen unehelichen Sohn, ist alleinlebend, alleinerziehend, alleinverdienend, nennt sich »der Prinz von Theben«. Eine unglaubliche Karriere, eine verstörende Erscheinung. …

In den dreißiger Jahren emigriert die Dichterin der Hebräischen Balladen zunächst nach Zürich, dann nach Jerusalem. Einer ihrer letzten Freunde und Bewunderer, der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Werner Kraft, schreibt 1942 über die einsame und ein wenig verwahrlost durch Jerusalem irrende alte Frau: »Sie kann nicht leben und nicht sterben, sie kann nur toben und hat den Grund vergessen, und er wird ihr nie mehr einfallen.« Und doch hat sie in jenen letzten Jahren ihre innigsten Gedichte geschrieben, das schönste heißt Mein blaues Klavied, das »steht im Dunkel der Kellertür, / Seitdem die Welt verrohte«, zerbrochen ist seine »Klaviatür«, und man weint um »die blaue Tote«. Das schreibt sie 1943, ein Jahr nach der Wannseekonferenz. / Zeit Thema: 50 deutsche Vorbilder

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..