22. Mal ehrlich

… wann haben Sie das letzte Mal einen Gedichtband von Anfang bis Ende gelesen? Diese Frage dürfte selbst Lyriker in Verlegenheit bringen. Charles Bukowski vielleicht? […] Ist ja auch keine Schande, jedes Gedicht beansprucht  seinen Raum und seine Zeit, und manches verursacht Migräne, noch ehe man die klandestine Botschaft verdaut hat. Wer es einfacher haben will, greift lieber gleich nach Kästner oder Tucholsky, weil moderner Poesie, mitunter zu Unrecht, der Ruf des Hermetischen vorauseilt.

Peter Salomons neuer Gedichtband „Die Jahre liegen auf der Lauer“ gehört zu jenen glücklichen Ausnahmen, die man nicht wieder zur Seite legt, weil der Autor nicht nur sein Handwerk beherrscht – das sei vorausgesetzt –, sondern auch etwas mitzuteilen hat. Das Leben eines 65jährigen hat eben doch ein paar mehr Scharten und Brüche aufzuweisen als das eines hochgejubelten Debütanten [der, wenn ich’s richtig verstehe, nichts mitzuteilen hat].

[…]

Und was das Altern betrifft, das ja selbst den Großmeister Benn melancholisch werden ließ, so kann man getrost sein. Salomon ist darauf vorbereitet. Das Alter hat nämlich auch Vorzüge: „Erst seit ich alt bin kann ich/  Auf dem Rücken schlafen.“ („Rückenlage“), das zweistrophige Titelgedicht setzt noch einen drauf: „Die Jahre kann man nicht aufschlitzen/ So bleibt im Bauch die Lebenstrauer./ Der Jäger liebt den Gassenhauer/ Und vom Hochsitz runterspritzen.“ Wer also immer noch meint, Gedichte seien nur was für blutarme Legastheniker oder Autisten unter „www.dichtung-fuer-fans.wuerg.“, der darf sich bei Salomon eines Besseren belehren lassen.

/Thomas Böhme in Fixpoetry

7 Comments on “22. Mal ehrlich

  1. mich wundert, ehrlich gesagt, dass die pauschale abwertung „hochgejubelte[r] Debüttanten“ (rimbaud? benn? montale?) oder eine stammtisch-aussage wie „Wer also immer noch meint, Gedichte seien nur was für blutarme Legastheniker oder Autisten unter ,www.dichtung-fuer-fans.wuerg …'“ (wer meint denn das? und was ist das für eine implizite herabwürdigung von legasthenikern und autisten?) eher unkommentiert bleibt.

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  2. mal ehrlich …. wieviele gedichtbände mag der verfasser dieses textes lesen / gelesen haben? dieses jahr? letztes jahr? wohl keine oder sehr wenige.

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  3. diese trennung ist ohnehin rein hypotetisch. es gibt jenseits der mitteilung kein handwerk. und jenseits des handwerks wird nichts mitgeteilt. jede botschaft, die nicht im text steht, ist keine wahrnehmbare. und keine des textes.

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    • also wenn wir das alles nur auf sprache, literatur beziehen:
      >>diese trennung ist ohnehin rein hypotetisch. es gibt jenseits der mitteilung kein handwerk.<>jede botschaft, die nicht im text steht, ist keine wahrnehmbare. und keine des textes.<<
      wat meint er mit: "im text?"

      außerdem, ich weiß nicht , (was mir da an implikationen und dialektik entgeht & verborgen bleibt) …
      nur: "jede botschaft, die nicht im text steht, ist keine wahrnehmbare." !!

      ei der daus, ei der strauß.
      steckt die botschat woanders, wäre sie ebenfalls nicht wahrnehmbar & wo sollte sie dann noch stecken und wenn nicht, wo sonst, wie + woher gelangen wir soweit, kommen zu diesem problem?

      aber schwamm druner & drüber:
      hauptsache wir wissen, dass es (für uns) nicht wahrnehmbare botschaften gibt
      oder dopplereffekte des mitgeteilten diew o dann auhc handwerk-charakter haben müssten, u.a. sowie ohne wenn und aber.

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      • über botschaften, die ich nicht bemerke, mag ich nichts sagen. versteckte botschaften in seitenstraßen, verborgene konsulate. botschaften in ostereiern, die ich nicht finde. in glückskeksen, die ich nicht aufbreche.
        zu all dem gebe ich keine auskunft. wenden sie sich bitte an den Attaché

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  4. »… weil der Autor nicht nur sein Handwerk beherrscht – das sei vorausgesetzt –, sondern auch etwas mitzuteilen hat.« – warum nicht mal umgekehrt: »weil der Autor etwas mitzuteilen hat – das sei vorausgesetzt –, und nicht nur sein Handwerk beherrscht.«

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