Gute und schlechte Recensenten

Gottfried Keller 

(* 19. Juli 1819 in Zürich; † 15. Juli 1890 ebenda) 

Aus dem Schreibheft

d. 18_t. Juli 45.
An Frau Caroline Schulz, als sie in den
Jahrbüchern d. Gegenwart eine etwas übertrieben lobende
Recension über meine ersten Gedichte ergoß.


Wenn aus dunkeln Tannenbüschen
kritisch lungerndes Gesindel
schäbig feige Wegelagrer,
Die in ihres Bettelsack's
bodenlosen schwarzen Gründen
nichts als schlechte Kupfermünze,
Krummen, dürre Käserinde
und dergleichen mit sich führen –
Auf den wandernden Poeten,
der da harmlos, geht und singt,
Ihre schlechten Witze senden,
Ihres Neides stumpfe Pfeile:
O dann nimmt er von der Straße
Nur den ersten besten Stein,
Werfend ihn nach dem Gesträuche,
Und das feige Pack verkriecht sich,
Schneutzt und reibt die wunde Nase,
Froh, daß man es nicht erkannt!

Aber wenn der gute Dichter
Nächtlich durch die Straßen wandelt
Träumerisch im Mondenlicht
Und von blumigem Balkone
Hinter Ros'- u Myrthenstöcken
Oder gar aus kleinem Fenster
Mit romant'schen Epheuranken
Lauschende verborgne Frauen
Ueberschwenglich ihres Lobes
Eine ganze Sündfluth gießen
Auf den Dichterling herab:
Rosenöhl und köll'nisch Wasser,
Mandelmilch und Limonade
Und dergleichen süßes Zeug:
Ach dann bleibt ihm gar nichts übrig,
Als den nassen Kopf zu schütteln,
Dumm verblüfft empor zu schauen,
Rufend: O ich bitte sehr!

Schreibbuch Ms. GK 9, Nr. 252, https://www.gottfriedkeller.ch/GG/HG/HG_09.htm

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