Tuvia Rübner 100

Zum 100. Geburtstag des in Bratislava geborenen erst deutschen, dann hebräischen Dichters Tuvia Rübner zwei Gedichte über das Elternhaus in Bratislava / Preßburg. Dort wurde er in einer deutschsprachigen jüdischen Familie geboren. „Nachdem seine Eltern und seine Schwester nach Polen deportiert worden waren, konnte er 1941 im letzten Augenblick mit einer Gruppe von zehn Freunden aus dem Jugendbund Hashomer Hatzair nach Palästina auswandern. Seine Angehörigen wurden 1942 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet.“ (Wikipedia)

Tuvia Rübner 

(geboren als Kurt Erich Rübner am 30. Januar 1924 in Bratislava, Tschechoslowakei; gestorben am 29. Juli 2019 bei Afula. Hebräisch Tuviya Rübner (טוביה ריבנר))

Zeugnis

Ich bin da um zu sagen

dieses Haus ist kein Haus
dort neben dem Marktplatz, sagte ich
Marktplatz? Gepflasterte Öde.

Ich bin da um zu sagen

dieser Weg ist kein Weg
vom Wald, vom Sandberg her
gehe ich, dort, wer geht? ging
ich in der Sonne des Untergangs
mit erfragenden Händen
Schritt für Schritt
das Gesicht meines Vaters
das Gesicht meiner Mutter.

Ich bin da um zu sagen

die Balken meines Vaterhauses, Kohle
Asche, Wind
meiner Schwester in meinem Haar, es weht
rückwärts, rückwärts, nächtlicher Wind

in meinem Tag ich bin da um zu sagen
Ja ihrer nächtlichen Stimme, Ja ihrem Schluchzen, Ja
dem, der verlorengeht im Haus ihrer Abwesenheit
dem das abfällt vom Schatten der Wände
auf die Furcht meiner Stimme zu sagen Ja
am wohnlosen Ort.

Aus dem Hebräischen übersetzt vom Autor, in: Der Vogel fährt empor als kleiner Rauch. Ein deutsch-israelisches Lesebuch Herausgegeben von Efrat Gal-Ed und Christoph Meckel. Göttingen: Steidl, 1995, S. 198. Aus dieser zweisprachigen Ausgabe ist auch das folgende Bild.

Die Wohnung

Wir waren in Preßburg,
parkten neben der alten Brücke,
begannen zu gehen, ließen den Entenbrunnen
hinter uns, auch die prächtig restaurierte blaue Kirche,
vorbei am Hinterhof des slowakischen Gymnasiums,
(mein letztes Schuljahr) –
und waren in der Gösslingsgasse. Da das von Efeu umrankte Eckhaus,
grün wie es immer war, ist doch merkwürdig, und schon
schräg gegenüber »unser« Haus, renoviert. Eintreten?
Möglich? Unverändert das Tor.
In der obersten Etage, dieselbe Wohnungstür, dasselbe Eisenwerk,
dasselbe dicke Glas. Ja, ja, das war unsere Wohnung.
Dieselben hohen Türen, dieselben Messingklinken.
Nein, das ist sie nicht. Das ist etwas anderes.
Die etwas Andere wird bleich wie ein unterbelichteter Film.
Die drei Fenster im Halbkreis (wie im Kinderzimmer) füllen sich
mit Nebel.
Keine Rosenstöcke im Garten, kein Rasen. Weiße Erde wie Asche.
Die Asche häuft sich und wächst, wächst und steigt hoch,
steigt an der Außenwand hoch wie ein Dieb,
steigt gleich ihm ins Zimmer,
steigt immer höher, von den Füßen an nach oben,
wie in Zeitlupe bis zum Nabel, zum Hals, füllt den Mund
und ich sehe nichts mehr.

Aus: Im Grunde wäre ich lieber Gedicht. Drei Jahrzehnte Poesie. Eine Anthologie Herausgegeben von Michael Krüger und Holger Pils. München: Hanser | Lyrik Kabinett, 2019, S. 40.

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