Lügenmärchen und Lügenlied

(Zwölf Nächte)

Auch die populäre Unterhaltungsliteratur bedient sich bei der verkehrten Welt. In den Märchen der Brüder Grimm gibt es Das Dietmarsische Lügen-Märchen.

Ich will euch etwas erzählen: ich sah zwei gebratene Hühner fliegen, flogen schnell und hatten die Bäuche gen Himmel gekehrt, die Rücken nach der Hölle, und ein Amboß und ein Mühlstein die schwammen über den Rhein, fein langsam und leise, und ein Frosch saß und fraß eine Pflugschaar zu Pfingsten auf dem Eis; da waren drei Kerls, wollten einen Hasen fangen, gingen auf Krücken und Stelzen, der eine war taub, der zweite blind, der dritte stumm und der vierte konnte keinen Fuß rühren. Wollt’ ihr wissen, wie das geschah? Der Blinde der sah zuerst den Hasen über Feld traben, der Stumme der rief dem Lahmen zu, und der Lahme faßte ihn beim Kragen. Etliche die wollten zu Land segeln und spannten die Segel im Wind, und schifften über große Aecker hin, da segelten sie über einen hohen Berg, da mußten sie elendig versaufen. Ein Krebs jagte einen Hasen in die Flucht, und hoch auf dem Dach lag eine Kuh, die war hinauf gestiegen; in dem Land sind die Fliegen so groß, als hier zu Land die Ziegen.

Kinder- und Haus-Märchen, Große Ausgabe. Band 2, Berlin 1815, S. 296. Als Quelle wird ein niederdeutsches Lied des 16. Jahrhunderts genannt, das auch in diversen hochdeutschen Fassungen verbreitet ist. Hier zwei hochdeutsche Versionen aus Pommern. Die erste stammt von Ernst Moritz Arndt.

Das Lügenlied.

Ich will euch erzählen, und will auch nicht lügen:

Ich sah zwei gebratene Ochsen fliegen,

Sie flogen gar ferne –

Sie hatten den Rücken gen Himmel gekehrt,

Die Füße wohl gegen die Sterne.



Ein Amboß und ein Mühlenstein

Die schwammen bei Köln wohl über den Rhein,

Sie schwammen gar leise –

Ein Frosch verschlang sie alle beid

Zu Pfingsten wohl auf dem Eise.

Es wollten Vier einen Hasen fangen,

Sie kamen auf Stelzen und Krücken gegangen,

Der erste konnte nicht sehen,

Der zweite war stumm, der dritte war taub,

Der vierte konnte nicht gehen.



Nun denke sich einer, wie dieses geschah:

Als nun der Blinde den Hasen sah

Auf grüner Wiese grasen,

Da rief’s der Stumme dem Tauben zu,

Und der Lahme erhaschte den Hasen.



Es fuhr ein Schiff auf trockenem Land,

Es hatte die Segel gen Wind gespannt

Und segelt’ im vollen Laufen –

Da stieß es an einen hohen Berg,

Da thät das Schiff ersaufen.



In Straßburg stand ein hoher Thurm,

Der trotzete Regen Wind und Sturm

Und stand fest über die Maaßen,

Den hat der Kuhhirt mit seinem Horn

Eines Morgens umgeblasen.



Ein altes Weib auf dem Rücken lag,

Sein Maul wohl hundert Klafter weit aufthat,

S’ ist wahr und nicht erlogen,

Drinn hat der Storch fünfhundert Jahr

Seine Jungen groß gezogen.

So will ich hiemit mein Liedlein beschließen,

Und sollt’s auch die werthe Gesellschaft verdrießen,

Will trinken und nicht mehr lügen:

Bei mir zu Land sind die Mücken so groß,

Als hier die größesten Ziegen.

Ernst Moritz Arndt: Mährchen und Jugenderinnerungen. Zweiter Theil. Berlin: Reimer, 1843, S. 370-372. Arndt gibt als Quelle Notizen seines verstorbenen Bruders Fritz aus Thüringen an. Das Lied ist aus vielen Regionen in lokalen Varianten überliefert. Hier ein „Scherzlied aus Pommern“, bei dem der Turm statt in Straßburg in Stralsund steht und auch Greifswald seinen Auftritt hat.

1. Ich will euch erzählen und will auch nicht lügen:
Ich sah zwei gebratene Ochsen fliegen;
Sie flogen von ferne,
Sie hatten den Rükken zur Erde gekehrt,
Den Bauch wohl gegen die Sterne.
|: Hei di del dum dei, 😐
Den Bauch wohl gegen die Sterne.

2. Ein Amboß und ein Mühlstein,

Die schwammen bei Köln wohl über den Rhein;

Sie schwammen also leise.

Ein Frosch verschlang sie alle beid'

Zu Pfingsten auf dem Eise.

|: Hei di del dum dei, :|

Zu Pfingsten auf dem Eise.

3. In Stralsund stand ein hoher Turm,

Der trotzte Schnee, Hagel, Regen und Sturm,

Stand fest über alle Maßen;

Den hat ein Kuhhirt mit seinem Horn

Auf einmal umgeblasen.

|: Hei di del dum dei, :|

Auf einmal umgeblasen.

4. In Schlawe war ein großer Hahn,
Der hat unendlich viel Schaden getan
An einer hohen Brücke.
'ne Biene fraß ein ganzes Schwein,
Ach, war das ein Unglücke!
|: Hei di del dum dei, 😐
Ach, war das ein Unglücke!

5. In Greifswald stand ein hohes Haus,

Da flog eine Fledermaus heraus,

Da barst es in tausend Stücken.

Da kamen elftausend Schneidergesellen,

Die wollten das Haus wieder flicken.

|: Hei di del dum dei, :|

Die wollten das Haus wieder flicken.

6. So will ich denn hiermit mein Liedchen beschließen

Und sollt's auch die ganze Gesellschaft verdrießen;

Will trinken und nicht lügen.

In meinem Land sind die Mücken so groß

Wie hier die größten Ziegen.

(In einer anderen Fassung des „Pommerschen Lügenlieds“ schwimmt der Amboss nicht in Köln, sondern in dem kleinen Ort Zanow in Hinterpommern „wohl über dem Rhein“, was natürlich noch mehr „Sinn macht“.)

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