Die ältesten spanischen Gedichte

sind nicht die Verse der Trobadors. Sie wurden erst 1948 wiederentdeckt, der Name dieser Gattung volkssprachlicher, eigentlich „makkaronischer“ Dichtung (d.h. Dichtung in mehreren Sprachen) ist Jarcha (spanisch) oder Chardscha. Es scheint sich um die ältesten volkssprachlichen Gedichte in einer romanischen Sprache überhaupt zu handeln, das älteste bekannte datiert von 1042, ein halbes Jahrhundert vor dem „ersten Trobador“ Wilhelm von Aquitanien, dessen „Lied aus reinem nichts“ auch in der deutschen Gegenwartsdichtung bekannt wurde (Thomas Kling, Raoul Schrott, Norbert Lange). Diese Texte sind in arabischer Schrift überliefert, ja sie gehören im Grunde zur arabischen Dichtung – es sind die Schlussverse eines Muwaschschah-Gedichts.

„Die Jarchas sind die ersten überlieferten Ansätze der volkssprachlichen Lyrik, geschrieben in einer Mischung von Arabisch (im Folgenden hervorgehoben durch Kursivschrift) und mozarabischem Spanisch, d.h der Sprachform, die von den im Maurengebiet lebenden Christen und Juden gesprochen wurde. Die »jarchas« (wörtl: Gürtel) fungierten als Refrains innerhalb längerer, in klassischem Arabisch geschriebener Gedichte, den »muwassahas«, und sind ein beredtes Zeugnis für die »convivencia«, das Zusammenleben der drei Kulturen im iberischen Mittelalter.“ (aus: Literatura española. De las Jarchas al siglo XXI. Antología. Hrsg. Hans-Jörg u. Mercedes Neuschäfer (Fremdsprachentexte). Stuttgart Reclam, 2005, S. 11).

Die Anthologie gibt folgenden „Original“text (kursiv ist Arabisch):

Mió sidi Ibrahim, 
ya nuemne dolye, 
vente mib 
de nojte.
In non, si non queris, 
iréme tib:
garme a ob 
legarte.

„Original“ ist freilich etwas übertrieben. Erstens sind es arabische Schriftzeichen, die kann man transkribieren, aber die arabische Schrift hat zweitens keine Zeichen für Vokale. Damit ist sie eigentlich ungeeignet für eine vokalreiche Sprache wie das Spanische, und der Text wird fast unleserlich:

bn sydy ’br’hym
y’ nw’mn dig
b'nt myb
dy nht
’n nwn šnwn k’rš
yrym tyb
grmy ’wb
lgrt

Der Text hat auf Arabisch keine Bedeutung, deshalb hat es so lange gedauert, bis die Texte entziffert (wiederentdeckt) wurden. Die Lesarten sind auch in der Forschung umstritten. Die genannte Anthologie gibt folgende Fassung in modernem Spanisch:

Señor mío Ibrahim, / oh nombre dulce, / vente a mí / de noche. / Si no – si no quieres / iréme a tí: / dime en dónde / encontrarte.

Auf Deutsch etwa:

Mein Herr Ibrahim,
o süßer Name!
Komm zu mir
bei Nacht.
Wenn nicht – wenn du nicht willst,
werde ich zu dir gehen.
Sag mir, wo
ich dich treffen kann.

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