70. Schönheit des nächtlichen Lyrik-Lesens

Die besondere Schönheit des nächtlichen Lyrik-Lesens besteht wohl in der Entlastung von der Bedeutsamkeit. Der Umgang mit Gedichten ist uns leider von den strengen Literaturlehrern in ganz besonderem Maß erschwert worden. Die „Interpretation“ oder die „Textanalyse“, die uns schon in der Schule als einzig seriöse Umgangsform mit Lyrik beigebracht wurden, sind in Wahrheit sehr geeignete Mittel, die Schönheiten der lyrischen Sprache zu verfehlen. Wer Gedichte singt, auswendig hersagt oder sie in tiefer Mitternacht als Vorwegnahme des Traums empfindet, erfasst von ihrer Eigenart mehr als all jene, die der Lyrik mit großem intellektuellen Aufwand eine Rationalität unterschieben, die sie weder hat noch zu haben braucht.

Vor kurzem begegnete ich im Halbschlaf dem deutschen Dichter Oskar Loerke (1884-1941), mit dem ich im hellen Licht des Tages nicht allzu viel anzufangen weiß. Aber plötzlich, im Schutz des nächtlichen Kontrollverlusts, rührte mich eine seiner Strophen an: „Zu reisen, ist der Vögel Winterschlaf, / der schwere Frösche, Schlangen oder Bären / im Schwebetraume nur mitschwebend traf. / O dass wir alle Vogelseelen wären!“

Ich kann und will über diese Verse eigentlich nicht weiter nachdenken. Sie gefallen mir – und das nur, weil meine schlafsuchende Vogelseele einmal mit Hilfe dieser schönen Strophe mühelos von der Alltagsrationalität in die Nachtgefilde hinüber gleiten konnte. / Hermann Schlösser, Wiener Zeitung

6 Comments on “70. Schönheit des nächtlichen Lyrik-Lesens

  1. Ich weiß eigentlich nicht, wie ich zu der Ehre komme, dass schon mehrere meiner „Wiener Zeitung“-Artikel in den Poetry News aufgetaucht sind, gefragt hat mich niemand. Aber ich habe eigentlich letztlich nichts dagegen. Zu der Diskussion möchte ich sagen, dass ich in meiner Glosse einen Satz ändern würde, wenn ich sie noch einmal schreiben würde: „. . . die der Lyrik mit großem intellektuellen Aufwand eine Rationalität unterschieben, die sie weder hat noch zu haben braucht“. Bei genauerem Nachdenken würde ich schreiben: „die sie zwar manchmal hat, aber durchaus nicht immer zu haben braucht.“
    Im Übrigen bin ich überhaupt nicht gegen Analyse – nur eben nicht bei Nacht.

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    • lieber hermann schlösser, freut mich daß sie „eigentlich letztlich nichts dagegen“ haben. wie sie „zu der ehre kommen“ ist schnell beantwortet: weil ich immer auf der suche nach interessanten nachrichten bin. daß 2 dieser nachrichten von lesern kommentiert wurden zeigt mir, daß es auch andere so sehen.
      warum sie nicht gefragt wurden ist eine andere frage. die berührt das konzept meiner lyrikzeitung, das ich seit über 11 jahren verfolge: nachrichten über lyrik zu bündeln und zur verfügung zu stellen und zu archivieren. täglich zwischen 500 und 900 klicks bezeugen eine nachfrage. verdient wird daran nichts, es ist ein kostenloser service, der mich und die leser nur zeit kostet.
      fragen würd ich, und tu ich, wenn ich etwas übernehme, was rechte dritter berührt. auf dem unterschied zwischen zitieren und übernehmen muß ich bestehen, gerade weil darum seitens einiger großer zeitungsverlage gestritten wird und lobbies druck auf regierungen ausüben. ich bin der meinung, das recht auf zitieren und verlinken muß verteidigt werden gegen egoistische interessen (nicht der autoren, sondern wie gesagt einzelner konzerne, die gerade dabei sind, ein über das urheberrecht hinausgehendes „leistungsschutzrecht“ zu ihren gunsten durchzusetzen). wer auf papier oder im öffentlich zugänglichen netz veröffentlicht, wird ja damit rechnen, daß er von der öffentlichkeit gefunden wird. ich helfe nur dabei.

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  2. aber das beschreibt doch hermann schlösser, dafür setzt er sich doch ein, für dieses lesen ohne autoritätsanspruch, die freie entfaltung dessen, was der text mit dem leser macht. unter umständen mit jedem etwas anderes. der eine will träumen, der andere verstehen und im besten fall ist da einer, der begreift.

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    • ja dafür muss er doch nicht allein stehen.
      so sachen kann man schon ruhig immer mal wieder (auch anders) sagen; überhaupt alles wichtige sollte auch immer mal wieder (auch anders) gesagt werden, denn auf dauer kann sich ja kein mensch das ganze wichtige merken und vieles ganz wichtige gerät dann auch schon mal hinter vielerlei halbwichtigem in vergessenheit. und wenns grad akut ist, dann kann man sich ja auch ruhig mal positionieren oder bekennen oder so. welches vernunftbegabte wesen kann denn schon sagen, wie lang es einer meinung bleibt? vielleicht sieht das schlösser ja in einer weile schon nicht mehr so und ich auch nicht und dann sind wir wieder weiter aber auch weiter auseinander und können hier lesen, dass wir uns auch schon einig waren; dass das möglich ist.

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  3. /ménage à trois/

    Was zwischen Text und begeistertem Leser passiert prägt sich ein, ein
    unwiderruflicher Pakt, wäre der Autor nur nicht,
    Autorität auch, dessen was da – weshalb und wozu steht,
    was er sich aber verkneift, ob es ihn interessiert,
    oder er mit den Gedanken am nächsten zu schreibenden Text ist,
    schwer zu verwerfen deshalb, zwischen dem Autor und dem,
    der, als begeistert geoutet, sich nun erlaubt zu begeistern,
    wieder als Autorität, dem Germanisten, der Pakt,
    um ihren Text auch zu streuen (neuerdings beider Gebilde!),
    wäre der Leser nur nicht, neuerdings Mündig wie die,
    die ihm den Text präsentieren, als wäre es ihrer alleine,
    ohne zu denken was Text anderes noch werden kann.

    – – –
    2tes frühstück
    180812
    m.s.

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  4. dazu die schönen aufwachzeilen, ebenfalls von loerke:

    Ein Wind fährt graupelnd über meine Haut
    und schüttelt frühe Krähen aus dem Tann,
    Und jene Wehmut, groß und unvertraut,
    Ward wie der Bach, der mir am Fuß zerrann.

    (”Nachtwanderung zu Tal”)

    was ich, so sehr ich mich über hermann schlössers plädoyer für loerke freue, nicht mag, ist das klischeehafte verurteilen der analytischen auseinandersetzung mit lyrik, mit der man angeblich gedichte \”zerhackt\” (wiewohl schlösser hier zugegebenermaßen moderat ist und nur auf die wahrscheinlichkeit hinweist). die schönheit von gedichten bleibt von der rationalen untersuchung ihrer struktur völlig unangetastet, ja letztere tritt oft erst dadurch richtig zutage (wird aus dem tann geschüttelt). und sie steht dem intuitiven erfassen in keiner weise im wege. ein anderer punkt ist, dass der deutschunterricht in sachen lyrik viel kaputtmacht. aber das liegt nicht an der textanalyse, sondern daran, dass diejenigen, die sie vermitteln sollen, selber oft kaum zugang dazu haben (zur analyse nicht und zur lyrik auch nicht).

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