101. Grünbein wie ein Hund (19 zu 70)

Eine schöne Idee*: „Lyrikerinnen und Lyriker der Gegenwart stellen sich vor“. Dirk von Petersdorff legt 19 Gedichte von Frauen und 70 von Männern vor, die die sich ausgesucht hatten, um zu sagen, zu zeigen, wer sie sind. 17 von ihnen sind vielleicht nicht für diese Sammlung geschrieben, aber hier doch erstmals veröffentlicht. Wolf Wondratscheks Gedicht zum Beispiel hat er zwar geschrieben, stammt aber, wie hinten bei den Nachweisen erklärt wird, aus dem Besitz von Dr. med. Wolfgang te Breuil. Man stellt sich vor, wie Wondratschek seinem Arzt Gedichte geschenkt hat wie mancher Maler mit seinen Bildern Rechnungen bezahlt. Vielleicht aber ist es ein Geschenk unter Freunden, und es gibt überall auf der Welt bisher unveröffentlichte Gedichte von Wondratschek, die er verstreut hat. Einfach aus Lebensfreude. Dieses hier ist ein Gedicht vom Ende, ein Gedicht auch wie von Descartes:

„Es kommt vor, daß wir in Zügen sitzen,
die durch die gelbe indische Nacht fahren.
Wir haben aufgehört zu schlafen.
Wir glauben nicht mehr, daß wir träumen.
Ja, es kommt vor! Es kommt vor, daß es dort,
wo wir hinfahren, keine Bahnhöfe mehr gibt,
keine anderen Reisenden außer uns,
am Ende nicht einmal mehr den Zug,
in dem wir sitzen.“

Der älteste Dichter in diesem Band ist Günter Grass, Jahrgang 1927. Die jüngste Autorin Theresa Hahl, geboren 1989 in Heidelberg. Sie hat eines der längsten Gedichte beigesteuert und auch das mit der längsten Zeile: „spült das auch immer ein bisschen gefühl durchs rippengemühl“. Theresa Hahl steuert auch das längste Wort bei: „ventrikelverdichtungsverschluss“ und sie spricht vom „gefühlsbausatz mensch“. (…) Der Versuch, sich den Gefühlen zu nähern, sie – frei von aller Empathie – zu verstehen, ist heute so reizvoll und nötig wie vor zweihundert Jahren. Die alphabetische Anordnung der Autoren fügt es, dass gleich nach Theresa Hahl Ulla Hahn kommt und sofort ist ein ganz anderer, ein gegensätzlicher Ton da:

„Für
All die geschundenen Körper zerrissenen Seelen
Gesichter ohne NAMEN ohne Gesicht“

Es macht den Reiz solcher Sammlungen aus, dass der Leser sehr Unterschiedliches, Popsongs und Durs Grünbein, zu sehen bekommt, dass er sich wie ein Hund hinlegen kann, wo er gerade Lust hat. / Arno Widmann, FR

*) sagt Arno Widmann

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