Der Spiegel spricht mit Wolf Biermann über seine Erinnerungen an den Hamburger Feuersturm vor 60 Jahren:
Meine Mutter freute sich über die Bombenangriffe, weil auch sie Kommunistin war – und weil nicht allein mein Vater, sondern unsere gesamte jüdische Familie ermordet worden war. Die alliierten Bomber waren unsere Freunde, wie man es kindisch sagt: unsere Verbündeten, die uns befreien sollten, von den Nazis…. In der ersten Nacht brannte unser Haus noch nicht ab, sondern nur die Häuser rundum. Unser Haus stand da noch wie ein einzelner Zahn im Gebiß. Wir saßen dann in der nächsten Nacht wieder im Bombenkeller unter dem Haus, und nun brannte auch unser Haus. Über uns der Weltuntergang! Und im Keller saßen die Leute wie die Tiere, es war bald klar, dass wir nicht mehr rauskommen, weil die Glut schon die Kellertreppe herunterkroch. Mit einer Spitzhacke wurde also ein vorbereiteter Durchbruch aufgeschlagen, der nur einen halben Ziegelstein stark war: zum Nachbarhaus, das ja schon abgebrannt war – zum Glück! Und dann krochen die Leute – einer nach dem anderen – mit irgendwas, was sie gerade noch erwischten, durch dieses Loch in der Brandmauer zum Nachbarhaus und verschwanden. … Eine unglaubliche Geräuschkulisse! Es ist eben die Hölle, es ist das Höllenfeuer. In der Hölle ist es laut, nicht nur heiß. Der Feuersturm brüllt!
/ 26.7.03
Für die NZZ vom 26.7.03 bespricht Hans-Albrecht Koch eine Bremer Ausstellung (samt Buch) über Rilkes Worpswede-Monographie.
Bis 24. August. Publikation: Rilke. Worpswede. Eine Ausstellung als Phantasie über ein Buch. 2003. 383 S., Fr. 42
Natürlich ist diese neue Generation nicht so naiv, sich gänzlich dem Traditionszertrümmerer Brinkmann hinzugeben. Was sich da mit sehr eigenen Wahrnehmungsweisen und Abweichwinkeln in dieser Anthologie tummelt, bewegt sich durch die unterschiedlichsten lyrischen Galaxien: von Mandelstam bis Brinkmann, von Rilke bis Rühmkorf, von Leonard Cohen bis Jimi Hendrix – und weit darüber hinaus. Aber trotz der varietätenreichen Artikulationsformen verblüfft doch die Bewunderungsbereitschaft, mit der Rebellen-Posen der Altvorderen gecovert werden.
Bei mindestens vier der insgesamt 74 Autoren (Jan Volker Röhnert, Crauss, Björn Kuhligk, Tom Schulz) ist Brinkmann die überlebensgrosse Figur, die mittels stilistischer Mimesis und peinlich devoter Reminiszenzen angerufen wird. Und hätten sich die lyrischen Erbschaftsanwärter Brinkmanns nicht jedes allgemeingültige Bekenntnis verboten – sie könnten von dem radikalen Anti-Traditionalismus ihres Vorbilds durchaus profitieren. Denn der Aufbruchs-Behauptung dieser neuen Anthologie liesse sich als Motto eine lässige Sentenz Brinkmanns aus dem Band «Westwärts» implantieren: «Ein neuer Realismus entstand, er stand rum.» Denn es ist – schon wieder – ein «neuer Realismus», ein sehr alter Bekannter also, der sich da in sehr vielen Texten der Anthologie breit macht. …
Das Ergebnis ist ein lyrischer Gemischtwarenladen, in dem man die wirklich singulären Dichter mit der Lupe suchen muss.
Von den «74 Stimmen» sind – bei grosszügiger Betrachtung – gerade mal zwei Dutzend als lyrisch eigenständige Dichter ernst zu nehmen, der übergrosse Rest geht den Weg des geringsten ästhetischen Widerstands. Aber wer mit ein wenig Geduld die «Lyrik von JETZT» studiert, wird auch auf die originären Sageweisen, die kühnen Artikulationen jener Dichter stossen, die wirklich Aufmerksamkeit verdienen.
Da sind die Wahrnehmungs-Exerzitien eines Nico Bleutge, optische Feineinstellungen als Vorschule eines neuen Sehens; da sind die intensiven, ganz auf das Rätsel der Physis konzentrierten Körperbilder Silke Andrea Schuemmers; da sind die überwältigenden mystischen Schöpfungsgeschichten Christian Lehnerts oder die kalten Stillleben der Liebe von Marion Poschmann. Da trifft die lyrische Mentalitätshistorikerin Sabine Scho, die mit schroffen Montagen die vom Faschismus kontaminierte Sprachlandschaft der Adenauer-Zeit durchquert, auf den Anti-Idylliker Hauke Hückstädt, einen Spezialisten für die ironische Unterminierung von Genrebildern und Alltagsszenen./ Michael Braun, Basler Zeitung 25.7.03
Björn Kuhligk/Jan Wagner (Hg.): «Lyrik von JETZT». 74 Stimmen mit einem Vorwort von Gerhard Falkner. DuMont, Köln. 422 S., Fr. 27.90.
Gerade mal zwei Dutzend? Also dann: kaufen! und mit Geduld lesen! MG
Das Aachener Festival „Leselust“ kündigen die Aachener Nachrichten vom 24.7.03 an:
Orientalische Akzente setzt schon die Eröffnung am 4. August mit den Autoren Christoph Leisten und Reinhard Kiefer. Leisten mit seinem neuen neuer Gedichtband „in diesem licht“ und Kiefer mit dem Erzählwerk „Café Moka“ versuchen jeder für sich, einen Bogen zwischen mitteleuropäischer und maghrebinischer Kultur zu schlagen. Gast am 7. August ist der seit Jahren in Aachen lebende Suleiman Taufiq, der aus der syrischen Hauptstadt Damaskus stammt, eine Auswahl aus seiner Lyrik. Taufiq gilt als einer der wichtigsten Vermittler zwischen arabischer und europäischer Literatur.
Mit der Lage in Kuba befaßt sich auch ein Artikel in der Zeit 31/2003:
Von den 75 Verhafteten ist im Grunde nur Raúl Rivero allgemein bekannt – weil er schon ein populärer Dichter war, bevor er 1995 seine unabhängige Nachrichtenagentur Cubapress ins Leben rief. Unkenntnis und Propaganda verleiten manche Intellektuelle gelegentlich zu überraschenden Urteilen. „Raúl Rivero war ein ordentlicher Dichter. Aber der Rest der Dissidenten ist eine Bande Nichtsnutze“, sagt die (systemkritische) Literaturprofessorin, ohne wirklich über die Arbeit der Opposition Bescheid zu wissen. In dieser Aussage hallt nur der schlechte Ruf nach, in dem die Dissidenz vielfach steht.
Überaus lobend bespricht Alexander von Bormann die Nachdichtung des „Armen Heinrich“ von Hartmann von Aue durch Rainer Malkowski, FR 23.7.03:
Heinrich wird uns als das Musterbild eines Ritters dargestellt. Malkowskis Verse geraten selbst ins Schwärmen: „Nie blühte Jugend schöner,/ er war ein Spiegel/ für den Glanz der Welt,/ ein Juwel der Treue und der Selbstzucht,/ die letzte Zuflucht/ der Bedrängten,/ ein Beschützer der Familie…/ Er trug die Last des hohen Ansehns./ Sein Rat schlug Brücken, wo kein Weg schien./ Im Minnesang war er ein Meister.“ Dieses Juwel der Menschlichkeit wird, wie einst Hiob, radikal aus seiner Lebensfülle gestürzt: Aussatz fällt den schönen Ritter an, alle wenden sich von ihm. „Sîn hôchmuot wart verkêret“, was Malkowski gekonnt modernisiert: „Da erhielt sein Selbstbewusstsein / plötzlich einen Schlag.“
Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Nachdichtung von Rainer Malkowski. Mit einem Nachwort von Norbert Miller. Hanser Verlag, München 2003, 151 Seiten, 14,90 €.
„Die Lyrikerin, Übersetzerin und Islamkundlerin Gisela Kraft, Jahrgang 1934, arbeitet mit im Writers-for-Peace-Committee des Internationalen P.E.N.“ Neues Deutschland interviewt die Autorin, die 1984 von West- nach Ostberlin übersiedelte. (Aber wenn meine Informationen stimmen, haben die Genossen sie zwei Jahre älter gemacht).
Ihrem Ost-Debüt „Katze und Derwisch“ (Aufbau 1985) gab sie ein Selbstinterview bei, das so endet: „Könnten Sie sich vorstellen, selber Derwisch zu sein? – Was sonst, da ich Mensch bin.“ / 23.7.03
Zehn Monate hat es gedauert, bis er aus Kuba ausreisen durfte – jetzt kann er nicht mehr zurück: der aus Havanna stammende Autor Carlos A. Aguilera (geb. 1970), der nun in der Kulturhauptstadt Graz als „Writer in Residence“ zumindest bis März 2004 Zuflucht gefunden hat. Der Lyriker und Essayist hat in Havanna die – heute nicht mehr existierende – kritische Literaturzeitschrift „Diaspora(s)“ herausgegeben – und darin den Kubanern u. a. Texte von Thomas Bernhard vorgestellt.
1997 hat Aguilera mit vier Freunden die Untergrund-Zeitschrift gegründet, in der Literaten und Intellektuelle, die sich nicht in den Dienst der staatlichen Schriftsteller- und Künstlervereinigung UNEAC stellen wollten, publizieren konnten. „Wir haben über die Situation in Kuba nachgedacht und Literatur, die man in Kuba nicht bekommt, übersetzt und darüber kritisch reflektiert“, so der heute 33-Jährige.
Aguilera nimmt in seinen Essays immer wieder auf Elias Canetti, Primo Levi, Victor Klemperer oder Joseph Brodsky Bezug. Diese Autoren wurden von dem Schriftstellerzirkel für die „Diaspora(s)“ in Auszügen übersetzt. Und neben Texten von Franz Kafka oder Milan Kundera und Schriften von Kulturphilosophen wie Gilles Deleuze und Felix Guttari fanden sich auch immer wieder Texte von Thomas Bernhard. Insbesondere imponiere ihn die kritische Haltung Bernhards gegenüber totalitären Regierungsformen: „Wenn man in Bernhards Texten anstatt ,Österreich‘ das Wort ,Kuba‘ einsetzt, dann gibt das exakt die Situation in Kuba wieder.“ / Wiener Zeitung 22.7.03
Der Warmbronner Verleger Ulrich Keicher, der die Edition im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung besorgt hat, versammelt hier einige Briefwechsel [Christian] Wagners, Fotografien und die wichtigsten Aufsätze zu dem Dichter, von Hermann Hesse und Peter Handke etwa, die frühere Lesebücher der wagnerschen Lyrik begleitet haben. Vor allem aber enthält dieser zweite Band die autobiografische Skizze „Aus meinem Leben“, deren gedrechselte Sätze nicht nur von der großen sozialen Not, sondern ebenso von den Freuden der Blumenwelt künden und von der für Wagner deutlich spürbaren „Forderung, ihr Sänger zu werden“. / Nico Bleutge, Stuttgarter Zeitung 22.7.03
Christian Wagner: Eine Welt von einem Namenlosen. Das dichterische Werk / Lebenszeugnisse und Rezeption. Hg. von Ulrich Keicher. Wallstein Verlag, Göttingen. Zwei Bände, zusammen 526 Seiten, 49 Euro.
Sie hatte schon 1928 angefangen, Gedichte in jiddischer Sprache zu veröffentlichen. Im Jahr 1936 erschien ihr Gedichtband „Lieder“ in der Bibliothek des Jiddischen PEN und wenige Wochen vor dem Ausbruch des Krieges ihr zweites Buch „Der Regen singt“. Von Anfang an fand sie ihre Form, das ganz kurze Gedicht, in freien ungereimten Versen – und eigentlich auch ihre Inhalte: alltägliche Gegenstände und Menschen aus ihrer Familie, aus ihrem Schtetl, Naturbilder und alttestamentliche Szenen.
Ihre Entscheidung für den freien Vers war damals avantgardistisch, ihre Poetik verließ sich aber mit kindlichem Vertrauen ein Leben lang auf uralte poetische Verfahren: einfache Nennung, Vergleich, Personifizierung, Herstellung stets durchsichtiger allegorischer und symbolischer Beziehungen zwischen der Natur und der Seele, der materiellen und der geistigen Welt: „Der Sommer ist grau geworden. / Da im Garten / regt sich kein Blatt. / Der Wind ist gestorben. // Lass mich allein auf der Bank. / Da werd ich sitzen, / da werd ich schweigen – / lange.“
…
Obwohl Rajzel Zychlinski ein halbes Jahrhundert in Amerika gelebt und gedichtet hat, ist erst 1997, wenige Jahre vor ihrem Tod, eine repräsentative Auswahl ihres Werks erschienen, in englischer Sprache.
…
Zum erstenmal werden nun die von Rajzel Zychlinski veröffentlichten Gedichte in einer Gesamtausgabe zusammengefasst. Sie hat überdies das Verdienst, durchgehend deutsche Übersetzungen zu den jiddischen Originalen zu liefern, die hier nicht in ihren ursprünglichen hebräischen Buchstaben, sondern in einer für deutschsprachige Leser leichter zugänglichen Form transkribiert sind. Diese Übersetzungen von großer Sorgfalt befolgen fast immer den Ratschlag der Dichterin und machen sich nicht poetischer als das Original.
Die Versuchung dazu ist aber groß: Die Dichterin hat sich eine Schlafpuppe gekauft, die sie sich als Kind so sehnlich wünschte: „ … am Abend macht sie die müden Augen zu, / ich bette sie, / ich lege sie schlafen”, sagt die Übersetzung. Aber im Original stand noch bescheidener: „ich lejg si schlofn, / ich dek si zu —.“
…
Anlässlich ihrer Aufnahme in die Sammlung „Der Fiedler vom Getto“ im September 1966 schrieb Rajzel Zychlinski in einem deutschsprachigen Brief an den Reclam-Verlag in Leipzig: „Schon lange war es meine Sehnsucht, meine Gedichte in deutscher Sprache gedruckt zu sehen.“ Sie hat sich nicht nur nicht gesträubt, ihre Gedichte in deutscher Sprache veröffentlicht zu sehen, sie hat selber dabei geholfen. Ihrer Biographin Karina von Tippelskirch-Kranhold sagte sie bei einem Besuch 1995 gerührt: „Leser werde ich haben, dort, in Deutschland!“ Wie furchtbar das Wort „deutsch“ auch für sie klingt und wie bitter es in einigen Gedichten ausgesprochen wird, so sind Leser deutscher Muttersprache doch nach den immer weniger werdenden Jiddischsprechenden eine zweite natürliche Leserschaft dieser Gedichte, die auch in der Übertragung ihren heimischen Klang und Rhythmus nicht verlieren.
HANS-HERBERT RÄKEL, SZ 21.7.03
RAJZEL ZYCHLINSKI: di lider 1928-1991. Die Gedichte. Jiddisch und deutsch, herausgegeben und übertragen von Hubert Witt. Zweitausendeins, Frankfurt 2003. 930 Seiten, 24,90 Euro.
„Also das Alphabet vergessen?“. Die jiddische Dichterin Rajzel Żychliński
Also das Alphabet vergessen?. Die jiddische Dichterin Rajzel Zychlinski von Karina von Tippelskirch
Preis: € 25.90
ISBN: 3828881416
Ob er – wie Klaus Reichert in seinem Nachwort zu den «Sämtlichen Gedichten» behauptet – tatsächlich nie auf die «Semantisierbarkeit des sprachlichen Materials» verzichtet hat, bleibt somit nach einer neuerlichen Lektüre zu fragen. Gerade in seinen Gedichten, die ihn am wenigsten als Homo ludens zeigen, besticht Artmann, der sich selbst auch einen Romantiker nannte, am meisten: in den Liebesgedichten aus «hirschgehege und leuchtturm» oder den poetologischen Annäherungen in «vier scharniere mit zunge», wo der Dichter mit einem Taucher verglichen wird, der vom Meeresgrund die «wörteralgen» hervorholt, um sie «am weissen strand des papiers» zum Trocknen auszubreiten. «er wird gebeten das seegras nicht / vor seiner zeit zu wenden danke.» / Hans Christian Kosler, NZZ 19.7.03
H. C. Artmann: Sämtliche Gedichte. Hrsg. v. Klaus Reichert. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2003. 799 S., Fr. 49.-.
Ders.: Auf Todt & Leben. Eine barocke Blütenlese. Hrsg. v. Klaus Renner. Manesse-Verlag, Zürich 2003. 123 S., Fr. 23.30.
Ders.: Im Schatten der Burenwurst. Mit Zeichnungen von Ironismus. Residenz-Verlag, Wien 2003. 160 S., Fr. 30.50.
Im Teehaus läuft das Radio. Leise dringt die Melodie eines Gedichtes, das gerade rezitiert wird, zu uns nach draußen. Die Perser haben ein Liebesverhältnis zu ihren Dichtern, und viele kennen die berühmten Verse von Hafis, Chayyam, Saadi und Ferdouzi auswendig. Während alle anderen vom Islam eroberten Völker bald die Sprache und Kultur der Araber annahmen, wurde im Iran über diese Dichter des 11. bis 14. Jahrhunderts – allen voran Ferdouzi – die persische Sprache unter der arabischen Herrschaft lebendig erhalten.
Auch heute noch leben die Perser wie kein anderes Volk mit ihren Gedichten, in denen Ströme von Wein und Blut fließen und ihren Geschichten von „mondgesichtigen“ Haremsschönheiten, die sich edlen Prinzen hingeben vor der Kulisse üppiger Paläste, welche von Gesang, Tanz, Ausschweifungen und Liebesgeflüster widerhallen.
Gedichte und Geschichten aus einem Reich, dessen sinnlich-erotischen Eindrücke – nicht zuletzt durch die Vermittlung Goethes, wie durch den Zyklus „West-östlicher Divan“ – ebenso unser Bild vom Orient geprägt und ihn zum Inbegriff der Opulenz gemacht haben.
Soweit die Poesie. Jetzt die Schläge:
Für Wein kommt man ins Gefängnis, Lust und Liebe stehen unter Generalverdacht. Im Land der erotischen Träume und Phantasien unserer Dichter und unserer Väter wurde soeben die Filmschauspielerin Gohar Cheirandish zu 74 Peitschenschlägen verurteilt, weil sie bei einem Filmfestival die Stirn eines Regisseurs geküsst hatte.
/ Ludwig Blohm, taz 19.7.03
Einblick in das Gespräch zweier Geistesmenschen im Jahre 1935 gibt ein Brief von Max Bense an Gottfried Benn, SZ vom 19.7.03:
Im Volk sein — jawohl — aber nicht in der Organisation. Nicht zuletzt lernte ich das, nachdem ich 2 Jahre in der SA Dienst tat (…)
Ich hoffe überdies, daß mein Buch in 3 Wochen herauskommt. Ich freue mich, es Ihnen schicken zu können. Für den Titel kann ich nichts. Nur da ich dieses Buch ein wenig als Kampfansage und Neue Tafel verstanden haben möchte war ich damit einverstanden.
Überdies warte ich schon wieder auf etwa Neues von Ihnen. Sie müssen noch viel sagen. Sie sind so notwendig, glauben Sie mir. Man muß mit Geist antworten, man muß wieder Geist aufreißen – „wenn das Opfer der Kleist, Nietzsche und Hölderlin nicht umsonst gebracht sein soll“. —— Ich habe große Hoffnungen für die Zukunft — mehr für das Geistige als das Politische Reich. Ich kann das nicht weiter begründen, es ist ein Gefühl, vielleicht schon eine innere Evidenz.
Die Perlentaucher-Rubrik „Vorgeblättert“ präsentiert Ralph Dutlis Mandelstambiographie, die im August bei Ammann erscheint:
Das bitterböse Kapitel Grenzsituation im zweiten Band der Memoiren Nadeschdas läßt die Ausmaße der Katastrophe ahnen. Noch 1970, als sie das Buch schrieb, schien ihr die ungezügelte Eifersucht die Feder zu führen. Fast täglich sei die junge Schöne vorbeigekommen und habe vor ihrer Nase Mandelstam „entführt“. Die Situation wäre reichlich banal, hätte Mandelstam in jenen ersten Monaten des Jahres 1925 für Olga nicht zwei seiner schönsten Gedichte geschrieben, die er wohlweislich vor Nadeschda verborgen hielt (1935, in der Woronescher Verbannung, als er verspätet vom Selbstmord Olga Waksels in Oslo erfuhr, kamen noch zwei Gedichte hinzu). Es sind die Verse eines schwerverliebten Dichters, der sich seiner Ehefrau gegenüber bereits in Lügen und Ausflüchte verstrickt hatte und oft selber keinen Ausweg mehr wußte. Das Leben war zum freien Fall geworden:
Das Leben fiel, ein Wetterblitz,
Wie ins Glas die Wimper stürzt,
Lügenprall bis an den Rand –
Keinen, niemand klag ich an.(TR, 195/197)
Das Gedicht entwirft eine Utopie absoluter Liebe. Das „goldene Schaffell“, das die Geliebte umgibt, ist das Kleid eines unerhörten Liebesmythos. Ein Traumpaar wird vorgeführt, das alles hinter sich zurückläßt. Der Reiz des Gedichtes liegt in der Spannung zwischen mythisch-erotischer Utopie und winzigen, schlichten Alltagsdetails:
Willst zur Nacht du einen Apfel,
Honigtee, ganz frisch gemachten?
Zieh ich dir die Stiefel aus,
Heb dich Fläumchen leise auf?Engel – hell im Spinngewebe,
Goldnes Schaffell dich umgebend,
Strahl von dem Laternenlicht
Schulterhoch beleckt er dich.(…)
Wie du stocktest allzuplötzlich,
Logst und lächeltest verletzlich,
Und verhaltene Schönheit strich
Hilflos hin dir durchs Gesicht.Hinter Hüten von Palästen,
Hinter Gärten, schäumend letzten,
Wimpernjenseits liegt ein Land –
Bist dort meine Frau genannt.Komm wir nehmen trockne Stiefel,
Goldne Bauernpelzchen, tiefe,
Nehmen uns dann bei der Hand
Gehn die gleiche Straße lang,Blicken uns nie um, erreichen
Strahlend helle Wegezeichen,
Nachtlang bis der Tag anbricht
Zwei Laternen voller Licht.
(TR, 195/197)
19.7.03
Wenn er sterbe, sei es ihm gleich, was mit seinem Körper passiere, schrieb Allen Ginsberg im Februar 1997, wenige Wochen vor seinem Tod, aber er wünsche sich «eine riesige Trauerfeier», bei der alle Freunde versammelt seien. Die Stimmen solcher Weggefährten und Bewunderer hat Florian Vetsch in einem grossformatigen Heft zusammengetragen. Die Fotografin Rosebud Pettet berichtet eindrücklich über Ginsbergs letzte Stunden, die Dichter Gregory Corso, Lawrence Ferlinghetti und Anne Waldman nehmen Abschied im Gedicht. / NZZ 19.7.03
Texte zum Tod von Allen Ginsberg. Herausgegeben von Florian Vetsch. Der Sanitäter Nr. 9/02. Verlag Peter Engstler, Ostheim/Rhön 2002. 108 S., EUR 9.-.
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