Drei Ratschläge

Einmal noch Rumi für den 750. Todestag, der vorgestern war. Das wäre für jedes Vierteljahrtausend eins. Heute ein Auszug aus der großen Dichtung aus 25000 Doppelversen, Masnawi. Aus Buch IV die (Doppel-) Verse 2245 bis 2265.

Die Geschichte vom gefangenen Vogel, der Folgendes riet: »Bereue nichts Vergangenes, kümmere dich um die jetzigen Bedürfnisse und verbring deine Tage nicht mit Reue!«

Mit List und Falle fing ein Mann 'nen Vogel, 
der Vogel sprach zu ihm: »Oh edler Meister,
wie viele Ochsen aßt du schon und Schafe,
wie oft schon hast du ein Kamel geopfert;
nie in der Welt wurdst du davon je satt,
und auch von meinen Gliedern wirst du's nie.
Befrei mich, dass ich dir drei Ratschläg gebe,
dann weißt du, ob ich klug bin oder dumm.
Den ersten geb ich dir auf deiner Hand,
den zweiten dann auf deinem Lehmdach oben,
den dritten Rat geb ich dir auf dem Baum;
durch diese Ratschläg wirst du glücklich werden.
Der Rat auf deiner Hand ist dieses Wort:
›Glaub keinem, wenn er dir mit Unsinn kommt!‹«

Kaum hatt' er auf der Hand den Rat gegeben,
war er schon frei, flog auf die Mauer und
sprach: »Zweitens: Traure nie Vergangnem nach!
Bedaure nicht, was dir entgangen ist!«
Und dann: »In meinem Leib versteckt ist eine
sehr rare Perle, die zehn Dirham wiegt;
und diese Perle war, so wahr du lebst,
dein großes Glück und jenes deiner Kinder,
nicht ihresgleichen hat sie auf der Welt,
doch du hast sie verpasst, hast Pech gehabt.«

So, wie 'ne Frau bei der Geburt laut klagt,
geriet der Meister in ein lautes Jammern.
Der Vogel sprach: »Hab ich dir nicht geraten,
all dem, was gestern war, nicht nachzutrauern?
Was grämst du dich dann wegen dem Vergangnen?
Begriffst du nicht den Rat? Bist du wohl taub?
Den zweiten Rat gab ich dir, dass du nie
vom Weg abkommst und jeden Unsinn glaubst.
Drei Dirham wieg ich selber nicht, du Löwe,
wie trüg ich da zehn Dirham in mir drin?«
Der Meister kam erneut zu sich und sprach:
»Jetzt aber gib den dritten guten Rat!«
Er sprach: »Ja, fein genutzt hast du die Ratschläg!
Den dritten gäb ich dir doch auch vergeblich.«
Einen verschlafnen Dummkopf zu beraten,
heißt Saat ausstreun auf unfruchtbaren Boden.
Auf Dumme sollst du Weisheitssaat nicht säen,
denn nie sind ihre Risse zuzunähen.

Aus: Dschalal ad-Din Rumi: Masnawi. Gesamtausgabe in zwei Bänden. Zweiter Band. Buch IV-VI. Aus dem Persischen von Otto Höschle. Xanten: Chalice, 2021, S. 887f.

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