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Alfred Lichtenstein
(* 23. August 1889 in Wilmersdorf; † 25. September 1914 bei Vermandovillers, Département Somme, Frankreich)
Man hat mich glücklich eingesperrt, Dran ist mir nichts gelegen, Und für total verrückt erklärt Des Dichtens nämlich wegen. Denn erstens dicht' ich unerlaubt, Grob und unmanierlich. Und zweitens dicht' ich überhaupt Und drittens zu natürlich. Und viertens dicht' ich viel zu viel Und viel zu atheistisch. Und fünftens sei mein ganzer Stil Sozusagen mystisch. Und sechstens sei die Poesie Von mir durchaus entbehrlich. Und endlich sei ich ein Genie Und auch noch sonst gefährlich. Und achtens sei ich nicht von hier Und fürchterlich versoffen. Und deshalb, neuntens, stände mir Die Gummizelle offen. Das Urteil ließ mich völlig kalt. Was sollt' mir denn passieren? Ganz nett ist dort der Aufenthalt. Man kann sich konzentrieren. Die Gummizelle hat Kultur, Das läßt sich nicht verhehlen. Was mich betrifft – ich kann sie nur Zum Dichten sehr empfehlen. Rein kommt man doch, 's fragt sich nur wann. Doch eins ist zu beklagen: Der alte Zellenwärter kann Das Reimen nicht vertragen. Denn fange ich zu reimen an, Dann wird er ungemütlich Und ruft empört, der alte Mann: »Nun sein Sie doch bloß friedlich!« Drum schreib ich Ungereimtes meist In der Gummizelle Und was ich sonst mir etwas dreist Von der Seele pelle. Auch diese Verse tat ich da Mir aus der Seele lutschen. Wem's nicht behagt, der kann mir ja Den Buckel runterrutschen.
Aus: Alfred Lichtenstein: Gesammelte Gedichte. Zürich: Arche, 1962, S. 13f
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