Auch die Troer also

Es gibt nicht die eine gültige Übersetzung. Sehen wir einmal von individuellen Auffassungen ab (es ist bekannt, dass Shakespeare, Rimbaud & Co. in den deutschen Fassungen von George, Rilke oder Celan immer auch Ähnlichkeiten mit dem Werk ihrer Übersetzer haben). Mindestens müsste jede Generation das ihr wichtige neu übersetzen – aber wie findet man heraus, was wichtig ist, wenn es keine aktuellen Übersetzungen gibt?

Haben wir gute, aktuelle Übersetzungen von Puschkin, Keats, Eminescu, Petöfi, Majakowski?

Ich kann die Frage nicht beantworten. Ich sehe mein Bücherregal durch nach Übersetzungen eines Gedichts von Konstantin Kavafis (vgl. gestern aus einer aktuellen Übersetzung). Kavafis hat wahrscheinlich Glück gehabt bei seinen deutschen Lesern, weil er seit Jahrzehnten immer wieder neu übersetzt wurde. Dieses Gedicht wurde bei deutschen Lesern (oder mindestens bei Brechtforschern) relativ berühmt, weil Bertolt Brecht eine Übersetzung von seinem Verleger bekam und daraus ein eigenes Gedicht bildete, das Teil des Zyklus „Buckower Elegien“ von 1953 wurde. Ich reihe es hier chronologisch mit ein, obwohl es keine Übersetzung ist.

1905

Geschrieben im Juni 1900, gedruckt 30.11.1905

1928

Troer

Mit unserm Trachten geht’s uns wie den Troern:
Wir kommen ein Stück vorwärts, glauben gleich
uns obenauf, und alsobald beginnen
sich Mut und Hoffnungen in uns zu regen.

Doch etwas tritt sofort uns in den Weg:
Im Graben vor uns ein Achill emporwächst,
der uns mit lautem Rufen treibt zurück.

Ja, wie den Troern geht es unserm Trachten:
Wir glauben, daß mit Willenskraft und Kühnheit
wir des Geschickes Schlägen wehren können,
und stehn schon draußen, fertig, kampfgerüstet.

Doch naht die große Stunde der Entscheidung,
dahin alsbald ist Willenskraft und Kühnheit.

Verwirrt wird unsre Seele und erlahmet,
wir jagen sinnlos um den Mauerring
und suchen nur noch Rettung in der Flucht.

Doch unser Fall steht unumstößlich fest:
Dort auf den Mauern hebt schon an die Klage;
beweinend denkt man unsrer großen Tage,
Laut jammern Priamos und Hekuba.

Deutsch von Karl Dieterich, aus: Neugriechische Lyriker. Mit einem Geleitwort von Gerhart Hauptmann. Leipzig: Haessel, 1928, S. 71

1953 (1)

TROER

Unsre Bemühungen, die von Schicksalsduldern,
Unsre Bemühungen sind wie jene der Troer.
Stückchen richten wir grade, Stückchen
Nehmen wir über uns und beginnen,
Mut zu haben und gute Hoffnungen.

Immer doch steigt etwas auf und heisst uns stillstehn.
Aufsteigt in dem Graben uns gegenüber
Er, Achill, und schreckt uns mit grossen Schreien. –

Unsre Bemühungen sind wie jene der Troer.
Kühn gedenken wir, mit Entschluss und Wagmut
Fallenden Schlag des Geschickes zu ändern,
Und wir stellen uns draussen auf zum Kampfe.

Aber sobald die grosse Entscheidung nahkommt,
Geht uns der Wagmut und der Entschluss verloren,
Unsere Seele erbebt, fühlt Lähmung,
Und in vollem Kreis um die Mauern laufen wir,
Durch die Flucht zu entrinnen bestrebt.

Dennoch ist unser Fall gewiss. Dort oben
Auf den Mauern begann schon die Totenklage.
Unsrer Tage Erinnrungen weinen, Gefühle weinen.
Priamos bitter um uns und Hekabe weinen.

Deutsch von Hellmuth von den Steinen, aus: Gedichte des Konstantin Kavafis. Berlin 1953, S. 15

1953 (2)

Bertolt Brecht

Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters

In den Tagen, als ihr Fall gewiß war
Auf den Mauern begann schon die Totenklage
Richteten die Troer Stückchen grade, Stückchen
In den dreifachen Holztoren, Stückchen.
Und begannen Mut zu haben und gute Hoffnung.

Auch die Troer also…

Aus: Brecht, Große Kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 12, Berlin u. Frankfurt/Main, 1988, S. 312

1997

Trojaner

Unsere Anstrengungen, wir Unglücklichen,
Unsere Anstrengungen sind wie die der Trojaner.
Wir erreichen schon einiges,
Fassen etwas Vertrauen und fangen an,
Mutig und voller Hoffnung zu sein.

Doch stets erscheint ein Hindernis und hält uns auf.
Aus dem Graben erhebt sich vor uns Achilles
Und erschreckt uns mit lautem Geschrei.

Unsere Anstrengungen sind wie die der Trojaner.
Wir glauben, daß mit Entschlossenheit und Kühnheit
Wir den Schlägen des Schicksals entgehen,
Und kampfbereit stehen wir draußen vor den Mauern.

Aber im entscheidenden Augenblick
Verlassen uns Kühnheit und Entschlossenheit,
Und unser Mut wird erschüttert, gelähmt
Wir laufen rings um die Mauer
Und suchen in der Flucht unser Heil.

Unser Untergang ist jedoch sicher. Oben
Auf den Mauern beginnt schon der Klagegesang.
Es jammern die Erinnerungen und Gefühle unserer Vergangenheit.
Bitterlich beweinen uns Priamos und Hekuba.

Aus: Konstantinos Kavafis, Das Gesamtwerk. Griechisch und Deutsch. Aus dem Griechischen übersetzt von Robert Elsie. Zürich: Ammann, 1997, S. 75

2001

TROER

Unsere Mühen sind die von Stürzenden.
Wir mühen uns wie die Troer.
Stückwerk gelingt uns; Bruchmauern
Richten wir über uns auf, fangen an.
Uns selbst zu vertrauen und guter Hoffnung zu sein.

Immer drängt uns etwas vom Weg und bringt uns zum Stehen.
Aus seinem Graben stürmt Achill
Vor und erschreckt uns mit lauter Stimme.

Wir mühen uns wie die Troer.
Glauben, entschlossen und mutig,
Uns der Schläge des Schicksals erwehren zu können.
Wir stellen uns draußen auf und wollen kämpfen.

Doch wenn der große Kampf kommt.
Sind wir verlassen von Wagemut und Entschlossenheit.
Angstgeschüttelt und starr ist unser Herz.
Wir laufen um die Mauern
Und suchen das Heil in der Flucht.

Und trotzdem fallen wir ganz gewiß. Droben auf den Zinnen
Hat schon die Totenklage begonnen,
Weint die Erinnerung unserer Tage, weinen die Gefühle.
Bitter weinen um uns Hekabe und Priamos.

Aus: Konstantinos Kavafis, Gefärbtes Glas. Historische Gedichte. Griechisch und Deutsch. Übersetzung und Nachwort Michael Schroeder. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2001, S. 15

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