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Urszula Wińska
Lagergebet (Pacierz obozowy)
Vater unser, der Du bist im Himmel
Und siehst unser heimatloses Leben,
Nimm uns in Obhut, Deine treuen Kinder,
Stille die Tränen, die unsere Seele trüben.
Geheiligt sei Dein Name hier auf fremder Erde,
Wo wir dem Vaterhaus gewaltsam entrissen,
Unter den Feinden und heimlich beten müssen.
Dein Wille geschehe! rufen wir demutsvoll,
Glaubend, daß Leid und Freude von Dir kommen müssen,
Daß Du uns alles gibst, Großer, Allmächtiger Gott,
Und der tiefe Glaube wird unser Schicksal versüßen.
Herr, unser tägliches Brot karge uns nicht!
Gib Kraft zum Überleben, und für die Seele den Glauben,
Daß unsere Verbannung nicht ohne Ziel ist,
Daß wir vielleicht durch unsere alten Sünden leiden.
Vergib unsere Schulden, durch die Schwäche entstanden,
Wenn Zwiespalt, Schmerz, Verzweiflung unsere Seelen füllen.
Und wenn manche, oh Herr, unter dem Kreuz fallen.
Führe uns nicht in Versuchung, die die Seele verdürbe,
vor allen Bösen rette uns vielmehr
Und gib uns eine glückliche Heimkehr.
Und die Kraft, und die Herrlichkeit
Amen
Ravensbrück, Dezember 1941
„Ich schrieb niemals Gedichte. Im Lager hatte jedoch das innere Bedürfnis, das Gebet des Herrn an die aktuelle Situation anzupassen, bewirkt, daß ich beim Appell betend die einzelnen Bitten und Anrufungen der Hilfe Gottes umwandelte (die Reime schmiedeten sich wie von selbst). Ich wiederholte sie tagtäglich und kannte sie auswendig. An einem Sonntag […] wagte ich, mein tägliches Gebet laut zu sagen. Die Ergriffenheit, die sich in Tränen offenbarte, zeugte davon , daß das Gebet tief erlebt wurde. Man begann es zu lernen , abzuschreiben, und in diesem Häftlingskreis hatte das »Lagergebet«, wie wir es nannten , uns und Gott nähergebracht.“
Aus: Constanze Jaiser, POETISCHE ZEUGNISSE. Gedichte aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück 1939-1945. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler, 2000 (Ergebnisse der Frauenforschung Band 55) S. 151f
Ein schöne lyrisches Fundstück.über das ich mich sehr freue, erinnert es mich doch an eine ähnliche eigene Idee und an mein Gedicht „Gebet“ in dem Lyrikband „Das Imaginäre und unsere Anwesenheit darin“:
Horst Samson
GEBET
Der du bist im Exil,
Verschwiegen werde dein Name, dein Wille
Vergehe ungeschehen auf Erden wie im Himmel
Das tägliche Brot. Dein Reich
Verschimmele, wie Dein Körper, deine
Wörter sind schnell und schuldig, sie vergeben
Nichts wie auch wir dir nie vergeben.
Es treffe dich das Böse, wo immer
Du bist, und nehme dir alles – das Land
Und die Kraft und deine Herrlichkeit,
Das ewige Amen und die Sprache. Deine Gedärme
Sollen rosten, dein Hirn
Soll verglühen wie ein Komet im Nichts
Des Exils, wo auch du ein Niemand bist
Wie dein Name. Wie
Dein Name!
(2013)
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