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Aus einer Rezension von Timo Brandt, Fixpoetry
Was mich wirklich begeistert hat an „Verbannt!“ ist zweierlei: Zum einen schlicht das Repertoire an Sprache, das einfach beeindruckend ist (womit nicht nur ein hoher Anteil an intelligenten abstrakten Begrifflichkeiten gemeint ist, sondern auch ein hohes Maß an lebendigen, epiphanischen Worten, oft Neologismen). Wie diese Sprache sich dann aber formt zu einem Erkenntnisinstrument, auf dem Ann Cotten stundenlang jammt und improvisiert, das ist Fulminanz. Und reicht weit über das hinaus, was ich in letzter Zeit in Sachen intelligenter Literatur gelesen habe – eine Verbindung von Aussage und Eindrücklichkeit, die in den besten Fällen die Ebene einer guten Shakespearestelle erreicht.
Du weißt, dass du zu wenig ahnst.
Wissen ist Erfrischung nur für den casual Verwender.
So wie dein guter Freund mit seinem kargen Wanst
gibt es dir nie mehr Küsse als du tragen kannst.
Denn eigentlich wird wesentlich sein, einen einzigen
Kuss zu verfolgen, wohin er dich immer bringt.
Dort seiend, weißt du, du erlebst nur einen winzigen
Teil alles anderen – doch der Teil singt.
Dass Ann Cotten viele dieser Behauptungen zuzufliegen scheinen, machte es manchmal allerdings schwer, die Strophen zu ertragen, in denen nicht eine tiefere Idee verhandelt wird, sondern bloß die Handlung weitegetrieben werden muss. Eigentlich wartet man dann, trotz einiger unterhaltsamer Stellen, immer auf den Moment, wenn sich das Geflecht der Reime wieder zu einem präzisen Blick verdichtet und verengt. Dann muss noch nicht mal „neu“ sein, was sie sagt – allein dadurch, dass es in einer lyrischen Wendung daherkommt, wird es sichtbarer, mittelbarer und hämmert sich in die Wahrnehmung, statt nur mal kurz hineingehängt werden. Der Reim wird zu einem Schläger, mit dem die sonst ruhenden Sätze direkt auf den Leser geschlagen werden.
Behauptungen werden heute industriell gefertigt
aus einem kleinen Kanon an Begründungen,
die schon im internationalen Schlagabtausch bewährt sich.
Misstrauen herrscht gegen Erfindungen,
die zu viel ändern – Optimierung bestehender Windungen,
nicht mehr, nicht weniger, wird als Verbesserung erkannt.
Viele dieser Strophen könnte ich mir einzeln vornehmen und eine Rezension darüber schreiben; Ann Cottens Sprache hat eine Kristallstruktur, die hin und wieder so geschliffen ist, dass jede Idee darin gebrochen und in alle möglichen Winkel kaleidoskophaft gespiegelt wird. Für einen Moment ist es dann, als könnten einem einige wenige Zeilen den Kosmos einer ganzen Themennatur erklären.
Das kann auch auffallend kryptisch und an der Grenze zur Willkür sein. Aber die Eindringlichkeit, mit der jede Rundung der Strophen vonstattengeht, gibt den Motiven genug Gestalt, dass man sich darauf einlässt (…)
Cotten hantiert aber nicht nur mit Bravour und Weisheit, sondern auch mit Albernheit und Schludrigkeit. Das macht mitunter großen Spaß und man kann immer noch die pure Handwerklichkeit in Kombination mit dem funkenschlagenden Wortschatz bewundern. Man liest sich in die krudesten Behauptungen hinein, als würde man sich an etwas Wonniges erinnern.
Ann Cotten
Verbannt! Versepos
Suhrkamp
2016 · 168 Seiten · 16,00 Euro
ISBN: 978-3518071434
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