Das Archiv der Lyriknachrichten | Seit 2001 | News that stays news
In einer faszinierenden Reiseerzählung führt uns die Schriftstellerin Esther Kinsky auf jenes mythische Terrain, auf dem einst Goethe sein Drama um Iphigenie, die Tochter des antiken Heerführers Agamemnon, angesiedelt hat: auf die Halbinsel Krim im Schwarzen Meer, die mit der antiken Landschaft „Tauris“ identisch ist. Kinsky trat ihre Reise im Oktober 2013 an, kurz vor dem Ausbruch des russisch-ukrainischen Konflikts, der zur faktischen Annektierung der Krim durch Russland führte. Das von der russischen Poesie umschwärmte „blaue Land“, in dem auch Ossip Mandelstam und Marina Zwetajewa längere Zeit zu Gast waren, erscheint in Kinskys Erzählung als eine Restelandschaft voller Betontrümmer, ein graues Beton-Eldorado, das mehr von streunenden Katzen und Hunden bewohnt wird als von Menschen. In der Nachsaison sind Badeorte wie Kurortne, Feodosia oder Koktebel menschenleer. Das als „blaue Stadt am blauen Meer“ besungene Koktebel entpuppt sich als ausgestorbene Landschaft von karger Felsigkeit in unmittelbarer Nachbarschaft zur Steppe. Der ukrainische Dichter und Musiker Sherjij Zhadan liefert im „Schreibheft“ zu dieser Beschreibung die passende fatalistische Begleitmusik. In seinem Langgedicht „Big Gangsta Party“ von 2007 spricht er schon von einer „angespannten / kriminogenen Situation“ in der ostukrainischen Industriestadt Charkiw, einer trostlosen Gemengelage aus Korruption und Bandenkriminalität, die vom permanenten Bürgerkrieg nicht weit entfernt ist.
Eine offene Landschaft der russischen Poesie und Ästhetik, bevölkert von nonkonformistischen Geistern, zeigen uns dagegen Oleg Jurjew und Olga Martynova, die in Frankfurt lebenden Dichter und Vermittler zwischen der russischen und der deutschen Literatur. Sie haben ein lehrreiches Dossier über die „geheime Revolution“ der „inoffiziellen Literatur“ in Leningrad zwischen 1960 und 1980 zusammengestellt. Dieses literarische „Paralleluniversum“, das sich wie in anderen osteuropäischen Ländern zunächst in Privatwohnungen konstituierte, hatte seinen eigentlichen Gründungsakt im Jahr 1975, bei einer Konferenz zum fünften Todestag von Leonid Aronson, des – wie Oleg Jurjew schreibt – „geheimnisvollen Dichters der Stille“ und großen Rivalen von Joseph Brodsky. / Michael Braun, Poetenladen
Sinn und Form, H. 4/2014
Redaktion, Postfach 21 02 50, 10502 Berlin. 130 Seiten, 9 Euro.
Schreibheft 83 (2014)
Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 45147 Essen. 184 Seiten, 13 Euro.
Neueste Kommentare