Das Archiv der Lyriknachrichten | Seit 2001 | News that stays news
„Mara Genschel ist Jahrgang 1982.“ „Da muss man schon ziemlich jung sein, um das Spiel noch einmal zu spielen.“ H.H. 2008
„Er muss ein junger Mann sein“ H.H. 2013
H.H. hat seine Meriten (für mich am schönsten die Anthologie „Luftfracht“, sehr nützlich die Fortführung der Höllerer-Anthologie zur „Theorie der modernen Lyrik“). H.H. tanzt auf allen Gassen des Akademie- und Preisbetriebs. H.H. ist ziemlich alt und zerfressen von Neid auf Jugend. Und Lyrik.
H.H. hat beizeiten und quasi abschließend über konkrete und experimentelle Lyrik geschrieben. Er mag es nicht, wenn jemand in seinem abgeschlossenen Sammelgebiet wildert. Er selber schreibt Sonette (800 Jahre) und verwendet deutsche Reime (1200 Jahre), aber was er für Experiment hält, war vor 100 Jahren (August Stramm), vor 50 (Arno Schmidt) oder 20 (Thomas Kling) und darf bitte nicht wiederholt werden.
H.H. schreibt als Harald Hartung (für mich mittelmäßige) Gedichte und Kritiken über Weltlyrik oder gemäßigt-moderne Gegenwartsautoren. Als H.H. schreibt er gern Schmähkritiken über junge Lyriker. Vorgestern Léonce W. Lupette. Er kritisiert Kalauer bei den kritisierten Autoren und kann es sich doch nicht verkneifen, seine Objekte der Kritik kalauernd der schenkelklopfenden Heiterkeit des Publikums dieser Zeitung zum Fraß vorzuwerfen. Bei Mara Genschel klingt das so:
Dagegen gibt es ein beinah brauchbares Bulettenrezept, brauchbar bis auf den misslaunigen Einschub „pantsch“ und die Aufforderung: „friss frikar / nach Bratzeit sechshundert sekunden.“ Da möchte man doch vom Genuss abraten.
Und bei Lupette:
Und wenn dem Autor einmal ein echter Seufzer zu entfahren droht, dann hebt ihn der orthographische Jux auf: „Main Pfragmain-ta-rüsches Lehm.“
H.H. weiß, was ein Gedicht ist und was nicht. Bei Genschel:
Eine Tagebuchnotiz, typographisch aufgemotzt – aber ein Gedicht?
Bei Lupette:
Ansonsten sind die in Flattersatz gesetzten Blasen von „Tablettenzoo“ das „Gegintayl“ von Dichtung.
Ich empfehle: Hingucken und nicht aufregen.
H.H.: Vom Kompostteller. FAZ 11.7. S. 30.
Léonce W. Lupette: „Tablettenzoo“. Gedichte. Lux Books, Wiesbaden 2013. 116 S., br. 19,80 €
Leonce Lupette klingt sehr interessant. Multilinguale, diachrone, jüdische Anklänge. Der liebe Herr Kritiker erinnert mich gleich wieder sehr an W. Kubin. Was sind heutige Gedichte? Was sollen sie sein? Was hat 1989 damit zu tun? Ich habe unlängst ein Gedicht geschrieben, das man hören muss, um es zu spüren. Klingt normal. Aber wenn man es sieht, ist es ein Dreieck. Oder zwei Dreiecke. Oder noch mehr, auf Deutsch und Englisch. Aber ANGST ist intensiver als FEAR, oder? Dreieck, jedenfalls. Muss man es dann noch lesen, vortragen? Gab es doch schon. Mode der 60er Jahre. Wenn Sonette oder alle sonstigen alten Versformen aktuell sein dürfen, warum nicht etwas Neueres? Ganz neu erfunden wurden Lautgedichte, visuelle Poesie – wann? In der Tang-Dynastie (619-907) entstand ein berühmtes riesiges visuelles Anagramm- Liebesgedicht, die Autorin und ihr Hauptwerk werden von David Hinton vorgestellt und übersetzt. Wenn wir Kinder der 1960er Jahre stolz sein sollen oder dürfen auf die Moderne, müssten wir irgendwann etwas aus den letzten 100 Jahren Bekanntes fortsetzen, verarbeiten, nehmen dürfen. Um etwas mitzuteilen, das mit uns zu tun hat. Oder?
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