Mythos Russland?

Aus einem Gespräch, das Adelbert Reif mit dem Slawisten Fritz Mierau führte:

Mierau: Mich Russland vollkommen zu ergeben, habe ich mich immer gescheut. Ich bin genügend Deutscher und damit eben Mitteleuropäer, um eine gute Distanz wahren zu können gegenüber dem, was man in den Begriff „Mythos Russland“ fassen könnte. Und zwar deshalb, weil es in meinem Leben nie eine Zeit gab, die von einer Ablehnung Deutschlands und deutscher Geistigkeit geprägt gewesen wäre. Auf eine solche Ablehnung trifft man gerade in meiner Generation sehr häufig und sie scheint mir in unserer Zeit der Vereinigung Europas wieder modisch zu sein. Ich aber werde mich immer zu Goethe bekennen: Sein Deutsch, etwa in „Dichtung und Wahrheit“, gibt eine nicht zu übertreffende Höhe vor.

So bedeutend die Literatur, die Poesie, der Geist Russlands auch sind, ich würde dennoch das Deutsche nicht aufgeben wollen. Das bezieht sich gleichermaßen auf die Moderne. So eruptiv sie sich in Russland mit Blok, Chlebnikow, Jessenin, Mandelstam, Majakowski, Achmatowa, Zwetajewa und unzähligen anderen Bahn brach, Deutschland steht dieser Entwicklung in keiner Weise nach, wenn wir an Benn, Brecht, George, Trakl oder Jünger denken. Die Größe der russischen Poesie vermochte ich gerade deshalb sehr früh so hoch einzuschätzen, weil ich mir des hohen Wertes der deutschen Poesie bewusst war. Und wenn ich auf Frankreich blicke: auf Verlaine, Mallarmé, Rimbaud, Baudelaire… Da konnte ich Russland nicht „verfallen“, zumal ich weiß, in welch starkem Maße die Russen selbst diese Traditionen in sich aufgesogen haben. Ich erinnere nur an die geistige Begegnung von Pasternak und Zwetajewa mit Rilke. Es gehört zu den großen Leistungen der Russen, dass sie fremdes Neues aufnahmen und es in ihrem eigenen Schaffen umformten, erweiterten und steigerten.

Reif: Gerade von dieser Steigerung aber muss eine eigentümliche Sogwirkung ausgehen…

Mierau: Gewiss, sobald man etwas genauer in die Geschichte, in die Literatur und Poesie Russlands hineinsieht – was bei mir freilich erst viel später geschah – kommt zur eigenen deutschen oder mitteleuropäischen Erfahrung ein eigentümliches Element hinzu, nämlich die Erkenntnis der ungeheuren geistigen Ausdehnung Russlands.

Jeder, der ein Gedicht von Puschkin, Jessenin oder Majakowski liest, und dann noch, wie ich, in erhaltenen Tondokumenten sehr früh die Stimmen der großen Dichter vom Anfang des 20. Jahrhunderts hört, wird von dem Gefühl bewegt: Es gibt nichts Vergleichbares. Da tönt etwas aus einem Raum, der nicht nur der Brustraum ist, sondern ein unermesslich weiter geografischer und geistiger Raum. Von dem Augenblick an, da mich dieses Gefühl ergriff, war es mir vor allem darum zu tun, Russland zu sehen, Russen in ihrer eigenen Umgebung zu erleben – wo auch immer in diesem Riesenreich. Denn wer Russland nur von außen betrachtet, kennt es nicht, mag er sich auch noch so leidenschaftlich mit seiner Literatur und Geschichte beschäftigen.

Reif: Worin unterscheidet sich das russische Denken vom westeuropäischen?

Mierau: Mein Empfinden war immer, dass das geistige Russland gewaltsamer ist als die gesamte europäische Geistigkeit. Gewaltsamer etwa in dem Sinne, wie Hannah Arendt den Unterschied zwischen Macht und Gewalt formuliert hat, und nicht nur mächtiger. Die Art, wie sich selbst die von ihrer Moraltheorie her sanftesten Repräsentanten des geistigen Lebens Russlands äußern, ganz zu schweigen von denen, die wie Tolstoi und Dostojewski von härterer Struktur sind oder gar den Dichtern des 20. Jahrhunderts, Majakowski und Zwetajewa beispielsweise, offenbart ein unerhörtes Maß an Gewaltsamkeit. Als ein durch das Lateinische gegangener Mitteleuropäer ist es für mich immer ein Problem geblieben, wie dieser in der orthodoxen Tradition gewachsenen Gewaltsamkeit zu begegnen sei, vor allem, wie man sie in Westeuropa plausibel machen und in unsere Zusammenhänge hineindenken könne.

(…)

Mierau: Ich würde das „religiöse Element“ sogar als den Ausgangspunkt der russischen Poesie des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Alexander Bloks Revolutionsdichtung „Die Zwölf“ zeigt es unübersehbar. Eine Zwölfer-Patrouille von Rotgardisten im Petrograder Schneesturm von 1918, zwölf verwegene Kerle mit ihren titanischen Leidenschaften im Zorn gegen die „schreckliche Welt“, einer der Mörder seiner untreuen Geliebten. Doch vor ihnen die Fahne – „blutig, wehend“, und unter ihr Einer „unsichtbar“, „Einer noch, der ist gefeit“ – „Rosenweiß sein Kränzlein ist / Vorne schreitet Jesus Christ.“ Block war von einer Vision tief erschüttert. Er hat sich von diesem Erlebnis nicht wieder erholt und es wird ein Rätsel bleiben, wer ihm da in Wirklichkeit erschienen ist.

Diese religiöse Bindung gilt auch für die Avantgarde mit Majakowski und Tretjakow. Bei einem scheinbar so orthodoxen Marxisten wie Sergej Tretjakow kommt noch eine Besonderheit hinzu: Seine Mutter entstammte einer deutsch-holländischen lutherischen Familie. Sie hatte zwar den russisch-orthodoxen Glauben ihres Mannes angenommen. Doch etwas war von ihrem alten Glauben übriggeblieben: In der Wohnung der Tretjakows hingen an vielen Stellen die aus Deutschland wohlbekannten, für den Pietismus charakteristischen kleinen Sprüche, die sogenannten „Losungen“, die die Bewohner durch den Tag geleiteten. Die von Tretjakow ersonnenen sowjetischen Agitationssprüche, für die er berühmt war, gelangen ihm eben deshalb so gut, weil er auf diesem Gebiet eine christlich-pietistische „Lehre“ durchlaufen hatte. Sogar bis in diese Sphäre hinein wirkte das „religiöse Element“. Alexander Blok wiederum war vom orthodoxen Kirchengesang beherrscht, der in seiner erfüllenden Macht auch in der frühen Dichtung Majakowskis eine bedeutende Rolle spielte. Darauf wies erst kürzlich der Dichter Gennadi Aigi hin.

 

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