107. Richtig beese

Von 1986-1988 erschienen seine ‚Gesammelten Werke‘ im Verlag Zweitausendeins. Sie durch eine Briefedition zu ergänzen, war immer geplant, doch wollten sich nach dem Verkauf von Zweitausendeins die neuen Eigentümer nicht auf das Wagnis einlassen. Zum Glück hat der kleine Berliner Verbrecher-Verlag, in dem auch die Tagebücher Erich Mühsams erscheinen und dessen Programm seit Jahren gleichermaßen frisch und überraschend wirkt, sich auch dieses Vorhabens angenommen. Da zudem ein Band mit den Gedichten für Leni und deren ‚Aufzeichnungen über die letzten Tage von Max Herrmann‘ erschienen ist, und zudem Klaus Völker ein Reisealbum des Dichters herausgegeben hat, ergibt sich die willkommene Gelegenheit, ihn neu kennenzulernen.

Dass Max Herrmann-Neiße immer wieder dem Vergessen entrissen werden muss, zeigt, wie ungerecht es auch in der Literaturgeschichte zugeht. Man lese nur das Gedicht ‚Orgie‘, aus dem März 1913, ein Sonett wie viele, aber ganz leicht, Liebesbalgerei neu gesehen und spielerisch verwirbelt. Der tradierte Ton der deutschen Dichtung klingt verjüngt: ‚Wir tappen tief durch Raps und Röhricht / und Sumpf und Säume von wilden Wiesen / und fallen nach Faltern und tuscheln töricht / und narrn uns mit Mohnsam und müssen niesen. // Und wühlen uns wütend in Haufen Heues / und juchzen und johlen wie fröhliche Fohlen / und streifen ab unser Schwaches und Scheues / und kreisen kreischend wie wehende Dohlen. // Spinnen kriechen uns über den Mund. / Ähren kitzlen keck unsre Nasen. / Mücken zerstechen uns Hals und Nacken. // Närrisch umbellt uns der kleine Hund. / Trunken wälzen wir uns auf dem Rasen, / Prustend wie Pane mit blühenden Backen.‘ (…)

Am Tag nach dem Reichstagsbrand verlassen Macke und Leni Berlin, sie treffen am 2. März in Zürich ein, einer Stadt, die ihm gefiel, sie schien ihm die richtige Mischung von Großstadt und Neiße zu sein. Er legte Wert darauf, dass er trotz seiner ‚uralten schlesischen Bauernahnenreihe‘ ins Exil gegangen war, nicht als Verfolgter, sondern aus Abscheu vor der Barbarei, weil er in der ‚Lügen-, Mord-, Tortur-, Räuberluft‘ Nazi-Deutschlands nicht leben wollte und konnte. Hoffnung auf Rückkehr hegte er nicht, hielt einen Krieg für unvermeidlich und war, wie er George Grosz schrieb, ‚mit die Brieder nu beese, richtig beese, wie wir Schlesier sagen‘. / Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung 17.12.

  • Max Herrmann-Neiße: Briefe. Hrsg. von Klaus Völker und Michael Prinz. 2 Bände. Verbrecher Verlag, Berlin 2012. 1085 und 1089 Seiten, je 42 Euro.
  • Christoph Haacker (Hrsg.): Max Herrmann-Neiße/Leni Herrmann. Liebesgemeinschaft in der Fremde. Gedichte und Aufzeichnungen. Arco Verlag, Wuppertal 2012. 144 Seiten, 16 Euro.
  • Max Herrmann-Neiße: Reisealbum, Herbst 1937. Hrsg. von Klaus Völker. Verlag Ulrich Keicher. Warmbronn 2012, 38 Seiten farbiger Bildteil, 16 Seiten Text, 24 Euro.

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