Kategorie: DDR

Eigenwillig

meine Mutter sagt
ich bin das intelligenteste ihrer vier Kinder und begabt
aber ich hätte am wenigsten daraus gemacht
ich habe keinen Mann
ich habe kein Auto
ich habe keine feste Arbeit
und ich lande immer wieder bei denen, die es nie schaffen

sprachzeiten

der panscht den
Wein zu Wasser, lobt Inzest von Hemdenblau
Und Bindenrot und uniformem Blaugrüngrau, der
Übt den Stechschritt, pflegt die Tradition

Lesung mit Publikum und Spitzel

Ich sehe vom zimmer aus das konspirative zucken des
hintern meines kleinen narren in der zitronengelben
hose, ein schäbiger mond, der animierend über der
dunklen Straße tanzt.

Martin Bernhardt (1961-2000)

Nur noch die Bäume
passen sich der Gedrücktheit
dieses Landes nicht an

Echte Dankbarkeit

Bald fünfzig; und nicht länger nur Gekrächz und Poescher Rab‘ ich;
Denn eine Wohnung endlich, eine eig’ne Wohnung hab‘ ich!
Ein and’rer Kerl scheint man geworden: Vorwärtsstürmend gab ich
Mein Ehrenwort, daß künftig keinen einz’gen weiter’n Stab ich
– Auch Staates Sicherheit nie wieder untergrab‘ ich… –
Über die Heimatstadt zu brechen wagen will, Frau Zapich!

ob ich …

ob ich nur Lust haben
ob ich nur Lust haben werde
ob ich nur Lust haben werde
ob ich nur Lust haben werde das nächste Wort
(Pause)
ob ich nur Lust haben werde das nächste Wort auszusprech

„Politik und Poesie“

Wer Ohren hat zu sehen der wird schmecken.

Manchmal

die Liebe sucht Eingang
durch die Rundungen eines Knopflochs,
und der Tod verabschiedet sich
im Fall mit einem Fehltritt
von der letzten Stufe.

Der Baum der Kneipen

Und dann gingen wir noch
Den Maler Ebert am Stadtrand besuchen
Da stellten wir fest: Frühjahr war: den Wiesen am Fluß
Wuchs schon was und die Sträucher
Beblätterten sich und Vögel
Rieselten raus. Wo er wohnt
Ist die Saale sanft gebogen und die Schwärze
Überspannt mit zierlicher Wölbung ein Brückchen.

Die falschen Dichter und die anderen

Immer wieder die sensiblen jungen Männer
mit dem verstimmten Klavier
ihrer Herzen Not
Sehnsucht mit der rechten Hand
Einsamkeit mit der Linken
Klaviere im Regen der Zeit

Friedemann Berger (1940-2009)

Wort, das
ich nicht hab.
Schotterwort.
Steinwort, mit den
Buchstaben vor A.

Als Dubček weinte

Ohne daß etwas Besonderes passiert wäre
Wie z. B. Einfallen des Himmels
Wurde er weggeschleppt aus seinem Präsidium
Geprügelt in polnischen Scheunen
In ein Loch geworfen vielleicht der Ukraine
Dann anscheinend vergessen
Vergessen auch vergessen zu erhängen
An einer Drahtschlinge wie Imre Nagy

Inge Müller 100

Die Gedichte geben sich naiv und sind das Gegenteil davon: frech wie hingeschnauzt. Es wird alles in diesen Gedichten so kalt, bis es brennt. Der Reim zerrt eine Zeile in die andere, aber dem ganzen Gedicht hält er den Mund zu.

Bruno

Schwieriger Umgang mit dem Abweichler
Es hilft nicht, die Instrumente zu zeigen:
Er hat sie beschrieben
Er beharrt auf seinem feindlichen Standpunkt
Daß sich die Erde bewegt

Heinz Czechowski (1935-2009)

Erziehungsberechtigt,
Und doch
Ständig erzogen von meinen Erziehern,

Mit gelockerter Zunge
Mündig geworden,
Und doch
Ständig mich anhaltend, den Mund zu halten,

Geh ich
Noch immer im Kreis.