15. Li Bai

In China ist er längst ein Klassiker: Sein spontaner Individualismus, seine Gefühlsbetontheit, seine Begeisterung für Frauen und Wein werden ebenso gerühmt wie getadelt, sein Genie, das sich vor allem in Vierzeilern mit wenigen Zeichen äußerte, ist aber unbestritten. Und da erwartet man doch, dass es mehrere Ausgaben auch auf Deutsch gibt. Weit gefehlt: Eine einzige über 300 Euro teure uralte Übertragung ist lieferbar – und jetzt eine neue. Schön wäre es aber gewesen, man hätte Li Tai-bos Gedichte auch gleich neu übersetzt, denn die vorliegende, ausführlich kommentierte Ausgabe ist von 1962, und in diesen 47 Jahren hat sich die Sprache erheblich geändert. Auch der Reim, den der Übersetzer in Anlehnung an das Original beibehält, hat heute einen anderen Stellenwert als damals und klingt veraltet.

Aber nicht nur daran merkt man das Alter der Übertragung. Worte wie „selbander“, Formulierungen wie „Wem des Hofes Eunuchen gewogen, hat Goldes die Fülle“ oder „des Ruhm die Welt wie Windeswehn durchhallt“ sind nun wirklich hoffnungslos verstaubt. Die „holden Mädchen“ wurden seit Hermann Hesse glücklicherweise nicht mehr gesehen, einen „Zelter“ kennt der ältere Leser vielleicht noch, aber bei „tausend Ewen alt“ und „in grüner Schratte“ muss man dann schon im Lexikon nachsehen. Schade über die vertane Chance. / Georg Patzer, literaturkritik.de

Li Tai-bo: Gedichte. 
Herausgegeben von Günther Debon.
Übersetzt aus dem Chinesischen von Günther Debon. 
Reclam Verlag, Stuttgart 2009. 
144 Seiten, 4,40 EUR.
ISBN-13: 9783150186756

Übrigens ist sein richtiger Name Li Bai (oder wie Arthur Waley schrieb, Li Po). Chinesen wundern sich über die westliche Namensgebung oder verstehen manchmal gar nicht, wer gemeint ist, wie es mir neulich wieder mit zwei chinesischen Studentinnen passierte, die erst auf meine Erklärung „Li Bai“ nickten. Tai-Bai oder Tai-bo war sein Beiname und bedeutet Morgen- oder Abendstern.

Die Übersetzung chinesischer Gedichte, namentlich auch der Klassiker, brauchte wohl in der Tat mehr Wagemut und Neugier, als unser Literaturbetrieb (Institutionen plus Leser) aufbringt. Rainer Kirsch hat vor Jahrzehnten ein radikales Experiment vorgeschlagen – meines Wissens wurde es nicht aufgegriffen.

Hier einige deutsche und englische Übersetzungen eines der berühmtesten Gedichte Li Bais,  „Nachtgedanken“. (Als Namen verwende ich jeweils die Schreibweise der Quelle):

Li-Tai-Po

In stiller Nacht

Vor meinem Bette heller Mondenglanz,
Als überdeckte Reif den Boden ganz.

Das Haupt erheb‘ ich, seh‘ zum hellen Mond,
Senk‘ es und denke meines Heimatlands.

(Otto Hauser, 1911)

Li-tai-pe

Wanderer erwacht in der Herberge

Ich erwache leicht geblendet, ungewohnt
Eines fremden Lagers. Ist es Reif, der über Nacht den Boden weiß befiel?
Hebe das Haupt – blick in den strahlenden Mond,
Neige das Haupt – denk an mein Wanderziel…

(Klabund, 1915)

Li-Tai-Po

In der Fremde

In fremdem Lande lag ich. Weissen Glanz
Malte der Mond vor meine Lagerstätte.
Ich hob das Haupt – ich meinte erst, es sei
Der Reif der Frühe, was ich schimmern sah,
Dann aber wusste ich: der Mond, der Mond…
Und neigte das Gesicht zur Erde hin,
Und meine Heimat winkte mir von fern.

(Hans Bethge, 1920)

Li Tai Po

In der Herberge

Vor meinem Lager weißer Schein–
Deckt Frühreif so den Boden zu?
Auf seh ich, seh in Mond hinein,
Seh niederwärts––o Heimat du!

(Hans Böhm, 1929)

Li-Tai-Po

Nachtstille

Mondlicht sah ich vor meinem Lager,
Mich wundernd, obs nicht reif am Boden sei.
Ich hob mein Haupt, sah draußen den Bergmond;
Ich senkt mein Haupt, gedenk meiner fernen Heimat.

(Hans Schiebelhuth, 1948)

Li Bo (Li Tai-pe)

Nachtgedanken

Vor meinem Bett das Mondlicht ist so weiß,
Daß ich vermeinte, es sei Reif gefallen.
Das Haupt erhoben schau ich auf zum Monde,
Das Haupt geneigt denk ich des Heimatdorfs.

(Günter Eich, 1952)

Li Bai

Nachsinnen in der stillen Nacht

Vor der Schlafstatt leuchtet hell der Mond.
Ich frage mich, ob Reif den Boden bedeckt.
Das Haupt hebend – blicke ich in den strahlenden Mond.
Das Haupt neigend – denke ich an meine Heimat.

(Li Show Lai, „Taiwan im Dezember“ [Jahreszahl fehlt leider in dieser Ausgabe])

Li Bai

Night Thoughts

I wake and moonbeams play around my bed
Glittering like hoarfroast to my wondering eyes
Upwards the glorious moon I raise my head
Then lay me down and thoughts of home arise

(Herbert A. Giles, 1898)

Thoughts in a Tranquil Night

Athwart the bed
I watch the moonbeams cast a trail
So Bright, so cold, so frail,
That for a space it gleams
Like hoar-frost on the margin of my dreams.
I raise my head, —
The splendid moon I see:
The droop my head,
And to dreams of thee —
My Fatherland, of thee!

(L. Cranmer-Byng)

A Tranquil Night

Before my bed a frost of light
Is it hoarfrost upon the ground Eyes raised,
I see the moon so bright
Head bent, in homesickness I’m drowned

(Xu Yuanzhang)

Die 3 englischen Versionen von China, the beautiful (dort kann man es auch im Original anhören).

Das Original kommt mit 4×5 Silben = Wörtern aus. In Wort-für-Wort-Übersetzung:

Bett vor hell Mond Glanz
gleichwie sein Erde auf Reif
heben Haupt aufblicken hell Mond
senken Haupt denken alt Glanz

weitere Nachdichtungen der „Nachtgedanken“

Klabunds Nachdichtungen bei gutenberg.de

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