73. Wilhelm Klemm

Wilhelm Klemm ist als Lyriker heute weitgehend vergessen. Das war nicht immer so: In der von Kurt Pinthus herausgegebenen „Menschheitsdämmerung“ (1919), der erfolgreichsten und bis heute viel zitierten Lyrikanthologie des Expressionismus, war er prominent mit 19 Gedichten vertreten, während sich etwa Gottfried Benn dort mit nur sieben Gedichten begnügen musste. Auch die zuvor in rascher Folge erschienenen Sammelbände „Gloria! Kriegsgedichte aus dem Feld“ (1915), „Verse und Bilder“ (1916) und „Aufforderung“ (1917) hatten Klemms Namen als Dichter (im Umkreis) des Expressionismus der literarisch interessierten Öffentlichkeit nachdrücklich eingeprägt.

Seine seit Oktober 1914 in Franz Pfemferts „Aktion“ vorab gedruckten Kriegs- beziehungsweise Antikriegsgedichte machten Furore, weil sie sich mit ihrer spannungsreichen Mischung aus vitalistischer Kriegsbejahung und unprätenziösem Lakonismus vom schwülstig-militaristischen Hurra-Patriotismus der seit August 1914 üppig ins Kraut schießenden Literaturproduktion (nicht nur) der Poetae minores abhoben und eine völlig andere, mit dem Gütesiegel der Authentizität versehene Sichtweise des Krieges etablierten. (…)

Die vorliegende Edition des lyrischen Gesamtwerks bietet nun die Gelegenheit, sich selbst ein Urteil über die literaturgeschichtliche Verortung und Qualität von Klemms Gedichten zu bilden. Abgedruckt werden die in Pinthus’ „Menschheitsdämmerung“ eingegangene Textauswahl, alle selbstständigen Publikationen von „Gloria! Kriegsgedichte aus dem Feld“ bis zu den „Geflammten Rändern“ und schließlich – in vier werkchronologisch gegliederten Rubriken – sämtliche verstreut publizierten Texte, sofern sie nicht in die davor präsentierten Sammelbände aufgenommen wurden. Da die Ausgabe kein Variantenverzeichnis besitzt, verdunkelt die letztere, editorisch vertretbare Einschränkung allerdings leider den von Ortheil betonten Umstand, dass Klemm bei Paralleldrucken seiner frühen Gedichte in der „Jugend“ oder im „Simplicissimus“ dem patriotischen Zeitgeschmack bisweilen einige Konzessionen machte, die er sich in den für Pfemferts „Aktion“ bestimmten Fassungen derselben Texte verkniff. Die Publikationsstrategien Klemms, die dieser nie als linientreuer Parteigänger agierende Autor – möglicherweise auch später noch – praktiziert hat, können also nicht rekonstruiert werden. Problematisch ist außerdem, dass die an sich philologisch korrekten Quellennachweise nur die abgedruckten Texte berücksichtigen: Die überwiegende Mehrzahl der Erst- beziehungsweise Einzelpublikationen von Klemms Gedichten in literarischen Zeitschriften wird somit bibliografisch nicht erfasst. Da mit einer weiteren Klemm-Edition auf absehbare Zeit nicht zu rechnen ist, wurde hier zweifellos eine Chance vergeben, für künftige Forschungen eine solide Grundlage zu schaffen.

Andererseits muss ausdrücklich hervorgehoben werden, dass sich diese Ausgabe weniger an wissenschaftliche Leser, als an ein gebildetes, bibliophiles Publikum richtet. Und in dieser Hinsicht ist sie in den höchsten Tönen zu loben. Es ist einfach eine Lust, dieses aufwändig und geschmackvoll gestaltete, in einer limitierten Auflage von 400 nummerierten Exemplaren hergestellte Buch in die Hand zu nehmen! / Michael Ansel, literaturkritik.de

Wilhelm Klemm: Gesammelte Verse. Mit Vignetten und Tuschezeichnungen von der Hand des Autors. 
Herausgegeben von Imma Klemm und Jan Volker Röhnert.
Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2012. 
768 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783871620775

3 Comments on “73. Wilhelm Klemm

  1. Ich habe in den letzten Wochen „Die Aktion“, in der Klemm einiges publiziert hatte, durchforstet und dabei noch einige Expressionisten entdeckt, deren Gedichte inzwischen gemeinfrei sind und bisher nicht im Netz zugänglich waren. Eine Auswahl steht unter http://www.lyrikmond.de/gedichte-thema-4-132.php Dabei möchte ich auch den Sammelband „Die Aktion 1911-1918“ (Aufbau-Verlag, Berlin 1986) empfehlen. Wer sich für diese Zeit interessiert, bekommt einen sehr interessanten Ausschnitt geboten: Positionierung gegen den Krieg, expressionistische Literatur und Kunst (vor allem phantastische Holzschnitte). Das Buch ist nur noch antiquarisch erhältlich, aber schon für um die 20 Euro zu haben. Und die sind gut investiert.

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  2. 98 Euro? Da bleibt für Normalo nur ein Blick aufs Cover. Wie kann man das nur so teuer machen und nur für die Bibliophilen, die sich das leisten können, so einen Band produzieren … Was hat sich Frau Klemm dabei gedacht? Sollen mal ein E-Book für, sagen wir, 9,90 € rausbringen. Lyrik gehört nicht ins Regalgrab. Klemm hat bis 1968 gelebt, dauert also noch Jahrzehnte, bis die Gedichte gemeinfrei werden; antiquarisch und günstiger kann man noch den Hanser Band aus den 80ern erwerben: Ich lag in fremder Stube. Nicht die Aufmachung ist wichtig, sondern die Gedichte.

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