ich lebe frei, ihr seid die beuter

Daniel Böswirth

ich hab das schild, ihr seid die bürger 
ich lebe wild, ihr heißt hans würger

ihr tragt das schild, ich kriech da raus
ihr bleibt zu haus, ich geb ‘nen aus

ich lebe frei, ihr seid die beuter
schwimm nach hawaii, ihr sammelt kräuter

ihr tragt das schild, seid vor wut bürger
ich geb ‘nen aus, ihr kommt da nicht raus

ich bin die kröte, hab reimnöte
und ihr klappt zu . . .

als ob euch goethe mehr böte

Aus: Daniel Böswirth, von den bösen viechern. mit linolschnitten des autors. Vorwort von Gerhard Jaschke. Wien: Fürth ohne th Verlag, 2023, S. 71

Festschrift für den Schatten

Gestern war der 80 Geburtstag des Dichters und langjährigen Hanserchefs Michael Krüger. Hier ein Gedicht aus seinem Band „Die Dronte“ (1985), für den er 1986 mit dem Huchelpreis ausgezeichnet wurde.

Michael Krüger 

(* 9. Dezember 1943 in Wittgendorf, Landkreis Zeitz)

Ein Naturforscher

1
Nur bei Tageslicht
soll er ihn führen:
der Herr wünscht alles zu sehen.
Jeden Stein am Wegesrand,
jedes Würmchen,
kurz: jede Schweinerei.

2
Der Herr sammelte
etwa dreitausend Pflanzen
in seinem Herbarium.
Mein lebendiges Gedächtnis,
pflegte er zu sagen,
das nie verblüht.

3
Den Himmel
betrachtete er selten,
selten das Fenster,
in den Himmel gezeichnet.
Er hielt wenig von der Mythologie.

4
Wir dürfen aber nicht das,
was wir nicht begreifen können,
aus dem Grunde,
weil wir es nicht begreifen können,
leugnen.

5
Gern erzählte er
von einem Kollegen,
der beim Anblick eines Pferdeschädels
wußte, wie die Natur
zu ordnen sei.

6
Die Welt wurde heller
unter dem Glas,
doch der Herr schrieb
eine Festschrift
für den Schatten.
Viel traute er
seinem Jahrhundert nicht zu.

7
Roß, Pferd, Gaul, Mähre:
zu viele Namen
erschweren die Ordnung.
Und die Ordnung
war selbst unter denen,
die einander zur Ordnung riefen,
nicht herzustellen.

8
»... er gab sich alle Mühe,
uns glaubhaft zu erläutern,
was ein Baum sei«,
notierte er. Es war die Zeit,
da Beobachtung dem Urteil
vorausging.
Über die Kindheit der Erde
sollten Knochen Rede stehen.

9
Schon war es nicht mehr möglich,
von allem Vorhandenen
Kunde zu erhalten.
Alles Entstehende
machte ihn bitter.

10
Sein Husten wurde lauter
und begrub ihn schließlich.
Im Koma sprach er
in fremden Sprachen,
meistens hawaiisch.

11
Wie eine Warnung
klang die Geschichte
der Einwohner von Los Velos,
die nacheinander Handwerk,
Künste, ja die Sprache
ihrer Väter verlernten.

12
Wo der gesittete Mensch
einwandert, verändert sich
vor ihm die Natur.
Dem bleibt nichts hinzuzufügen.

13
Da er vor der Zeit arbeitete,
wurde er mißverstanden.
Nur sein Schatten blieb haften
auf einer zerfallenden Erde.

Aus: Michael Krüger: Die Dronte. Gedichte. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch, 1988, S. 14ff (zuerst 1985 bei Hanser)

Weiß nicht warum

Fritz Graßhoff 

( * 9. Dezember 1913 in Quedlinburg; † 9. Februar 1997 in Hudson, Kanada)

Was ich getan

Was ich getan,
verlor den Sinn.
Weiß nicht, warum
ich fröhlich bin.

Was ich geliebt,
deckt schon der Schnee.
Weiß nicht, warum
ich weitergeh.

Gezählt ist schon
der Stunden Schlag.
Weiß nicht, warum
ich leben mag.

Aus: Das deutsche Gedicht vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Christian Rößner. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2005, S. 441.

Jorinde, komm

Volker von Törne 

(* 14. März 1934 in Quedlinburg; † 30. Dezember 1980 in Münster) 

Märchen

Jorinde, komm ins Schneckenhaus.
Da wolln wir beide schlemmen:
Auf Schutt gebackne Haselmaus
und Mus von Schimmelschwämmen.

Da schlachte ich den Goldfasan.
Im Kessel schmort mein Igel.
Da trinkst du Milch und Lebertran
aus fosforrotem Tiegel.

Jorinde, komm ins Schneckenhaus,
eh sich die Wolken färben.
Die Nacht schlägt uns die Augen aus:
Da schmück ich dich mit Scherben.

Da mach ich uns ein Bett aus Schrott
und schenk dir meinen Schatten.
Und bau um uns ein Bild von Gott
aus Draht und Panzerplatten.

Aus: das atelier 2. Zeitgenössische deutsche Lyrik. Hrsg. Klaus Wagenbach. Frankfurt/Main u. Hamburg: Fischer Bücherei, 1963, S. 135

NB

Jetzt weiß ich, KI ist ein Studienrat. Er kann ein Gedicht nur ertragen, wenn er es auch dem Leser in der hintersten Bank klargemacht hat, will sagen, eingeführt, kontextualisiert, Bildsprache analysiert, Reim und Metrum inspiziert, tiefere Bedeutung extrahiert, in Sekundärwissen überführt, in handliche Stücke tranchiert und fest verschnürt hat. Hier seine Reaktion auf das Märchen.

The content is a poem titled „Märchen“ by Volker von Törne. The poem expresses a playful and imaginative atmosphere, with vivid imagery and unconventional language. However, the meaning and interpretation of the poem may not be clear to all readers. To improve the content, consider the following actions:

1. Provide a brief introduction or context for the poem to help readers understand the author’s intention.

2. Explain the symbolism and metaphorical elements used in the poem to enhance readers‘ understanding.

3. Consider including an analysis or interpretation of the poem, exploring its themes and deeper meanings.

4. Add a conclusion or reflection on the significance of the poem within the context of German contemporary poetry.

By implementing these actions, the readers will have a better grasp of the poem’s message and its artistic value.

Dichter im Dienst

Der AI-Assistent von WordPress fordert mich fast täglich auf, mehr Kontext über den Dichter und sein Gedicht zu liefern, damit die Leser die Bedeutung des Gedichts besser würdigen können. Hier also einmal eine Strophe aus dem Werk des großen russischen Dichters Alexander Puschkin mit ganz viel Kontext. Mal sehen, ob die Artificial Intelligence heute zufrieden ist. (Mal sehn, ob sie merkt, dass ich hier über sie rede, ha!). Gefunden habe ich die Strophe mit Kontext in dem Aufsatz von Andrej Soldatow und Irina Borogan: Der Angreifer von außen. Wie in sowjetischen Schulbüchern ein unkriegerisches Imperium konstruiert wurde, aus der Ausgabe 183 der österreichischen Zeitschrift wespennest (November 2022).

Kampf gegen die Barbaren

Der Geschichtsunterricht über das 19. Jahrhundert wurde von zwei großen Narrativen dominiert: dem Überfall Napoleons und dem gescheiterten, aber glorreichen Dekabristenaufstand sowie der Entstehung einer revolutionären Bewegung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Die lange und schreckliche Unterjochung des Kaukasus fand vor allem in der Lyrik der russischen Dichter Puschkin und Lermontow einen Ausdruck. Beide begeisterten sich für die russischen militärischen Heldentaten. Nehmen wir Puschkins Poem Der Gefangene im Kaukasus:

Besinge auch die hehre Stunde, 
Da Schlachten witternd und Gefahr
Zum Kaukasus dem Höllenschlunde
Hinstürzte unser Doppelaar.
Da in des Tereks graue Wellen
Der erste Schlachtendonner traf
Und er vor Rußlands Trommelfellen
Erschrocken fuhr aus langem Schlaf.

(Ich füge hier den russischen Originaltext ein – des Satzzusammenhangs wegen, den die zitierte Übersetzung nicht genau einhält, um ein paar Zeilen verlängert. Darunter die automatische Übersetzung von Deepl.)

И воспою тот славный час,
Когда, почуя бой кровавый,
На негодующий Кавказ
Подъялся наш орел двуглавый;
Когда на Тереке седом
Впервые грянул битвы гром
И грохот русских барабанов,
И в сече, с дерзостным челом,
Явился пылкий Цицианов;
Тебя я воспою, герой,
О Котляревский, бич Кавказа!

Ich werde von jener glorreichen Stunde singen,
Als ich die blutige Schlacht roch,
Als unser zweiköpfiger Adler
Unser zweiköpfiger Adler aufstieg;
Als auf dem grauen Terek
Als zum ersten Mal der Donner der Schlacht ertönte
Und das Rasseln der russischen Trommeln,
Und im Kampf, mit kühner Stirn,
Der glühende Zizianow erschien;
Ich werde dich preisen, Held,
O Kotljarewski, Geißel des Kaukasus!

(Weiter im Text bzw. Kontext der beiden Autoren)

Das unermesslich große Territorium hinter dem Ural, Sibirien, war nach offiziellen Angaben vorwiegend von Wilden und Barbaren bevölkert, sodass seine Einverleibung ebenfalls nicht als echte Invasion bezeichnet werden könne. Russische Autoren und Künstler waren an dieser Geschichte kaum interessiert.

Schlimmer noch, die russischen Zaren erdachten die «Katorga», das System harter Strafarbeit im Russischen Reich, das für dieses Territorium symbolisch wurde. Und tatsächlich entwickelte sich Sibirien zu einem so schrecklichen Ort für Gefangene und Verbannte, dass sich in der russischen Gesellschaft ein merkwürdiger psychologischer Effekt herausbildete – die Vermeidung der Erwähnung Sibiriens um jeden Preis. Dabei ist bemerkenswert, welches Wort in den russischen Schulen für die Beschreibung der Kolonisierung dieses Landes verwendet wird – Unterwerfung Sibiriens. Allein hier gesteht die russische offizielle Geschichtsschreibung die Unterwerfung eines Territoriums ein, doch wird diese Unterwerfung von der Öffentlichkeit als Urbarmachung der rauen und grausamen Natur Sibiriens verstanden, nicht als Unterwerfung der vielen indigenen Völker, die es bewohnten.

Die blutige Eroberung Zentralasiens wurde völlig übersehen oder falsch dargestellt. Der russische Künstler Wassili Wereschtschagin (1842-1904) war Augenzeuge der russischen Eroberung Zentralasiens. 1871 malte er «Die Apotheose des Kriegs» – einen Schädelhaufen vor den Mauern einer asiatischen Stadt. Das Gemälde war «allen Eroberern der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft» gewidmet und galt als eines der einprägsamsten Antikriegsgemälde der Weltgeschichte. Die russische Eroberung war tatsächlich blutig und brutal – doch zeigt das Gemälde nicht die russischen Soldatenopfer, sondern die der asiatischen Despoten wie Timur. Anstatt also eine Kritik der russischen Invasion zu sein, verurteilt das Gemälde die asiatische Barbarei.

Aus: wespennest. zeitschrift für brauchbare texte und bilder, Nr. 183, November 2022, S. 62. – Die Übersetzung aus Puschkins Verserzählung stammt von Adolf Seubert, aus: Alexander Puschkin: Der gefangene im Kaukasus. Leipzig: Reclam, 1873.

Einband einer sowjetischen Puschkinausgabe von 1949

Hier noch das AI-Urteil.

The content provides historical context and excerpts from Alexander Pushkin’s poem „The Prisoner in the Caucasus.“ It also discusses the narratives dominating the 19th century history lessons in Russia and the colonization of Siberia. In addition, it mentions the overlooked or misrepresented bloody conquest of Central Asia by Russia.

To improve the content:

1. Consider providing a brief introduction about Alexander Pushkin and his significance as a Russian poet.

2. Clarify the connection between the historical narratives and the poem „The Prisoner in the Caucasus.“

3. Expand on the impact of Pushkin and Lermontov’s poetry on the perception of Russian military heroism.

4. Elaborate on the significance of Siberia’s colonization and the psychological effect it had on Russian society.

5. Provide more details about the Russian conquest of Central Asia and its consequences.

Overall, the content about Alexander Pushkin and the historical context is informative but could benefit from further elaboration and clarity.

Irrtum

Barbara Korun

(Geboren 1963 in Ljubljana)

Im Zug Ljubljana - Villach 

In den Augen der Grenzpolizisten
im Zug von Ljubljana nach Villach
werde ich zur Frau, hellhäutig,
etwas älter, wahrscheinlich ungefährlich,
Nichtmigrantin, Nichtterroristin.

Was für ein Irrtum!

Aus dem Slowenischen von Matthias Göritz und Amalija Maček, in: Mein Nachbar auf der Wolke. Slowenische Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts. Hrsg. Matthias Göritz, Amalija Maček und Aleš Šteger. München: Hanser, S. 229

Na vlaku Ljubljana - Beljak 

V pogledu obmejnih policistov
na vlaku iz Ljubljane v Beljak
postanem ženska, svetlopolta,
starejša, potencialno nenevarna,
nebegunka, neteroristka.

Kakšna zmota!

Sogar in Bayern und im Banat

Hermann Kesten 

(* 28. Januar 1900 in Podwołoczyska, Königreich Galizien, Österreich-Ungarn; † 3. Mai 1996 in Basel, Schweiz)

Haiffa

Als ich das Heilige Land betrat,
Zog ich meine Schuhe nicht aus.
Gott ist überall zuhaus,
Sogar in Bayern und im Banat.
Die Esel des Heiligen Landes
Zeigen himmlische Geduld.
Die Juden sind schuld. Und die Araber sind schuld.
Sie zerreißen die Fetzen desselben Gewandes.

(1950)

Aus: Versensporn 34. Hermann Kesten. Jena: Edition Poesie schmeckt gut, 2018, S. 19

Heut

Stefan George 

(* 12. Juli 1868 in Büdesheim, heute Stadtteil von Bingen am Rhein; † 4. Dezember 1933 in Locarno) 

Wenn ich heut nicht deinen leib berühre
Wird der faden meiner seele reissen
Wie zu sehr gespannte sehne.
Liebe zeichen seien trauerflöre
Mir der leidet seit ich dir gehöre.
Richte ob mir solche qual gebühre ·
Kühlung sprenge mir dem fieberheissen
Der ich wankend draussen lehne.

Notschrei

Max Herrmann-Neiße

(* 23. Mai 1886 in Neiße, Schlesien; † 8. April 1941 in London)

Letzter Notschrei

Alle Dinge tun
meinem Kopfe weh:
Klappern am Buffet
und des Ventilators Lärm-Taifun.
Wie die Zeitung schmal
ist und allzu klein:
wär' so gern allein
hinter einer Larve im Lokal!
Essender Geschmatz,
Winke, mir geschickt,
wie ein Spitzel blickt,
zielen feindlich feig nach meinem Platz.
Des Klavieres Klang
und der Kellner dreist
lauernd und ein feist
böser Bürger – ach wie bin ich krank!
Gänge sind Gefahr,
Dolche stehn versteckt,
und nach Giften schmeckt
alles, und entsetzlich welkt mein Haar!
Meine Stube schreit
wie ein sterbend Kind.
Alle Dinge sind
Mörder! Und die Heimat liegt so weit!
Alles ist verspielt –
was verweil' ich noch? –
Daß die Mutter doch
meinen armen Kopf in ihrem lieben Schoße hielt!

Aus: Max Herrmann-Neiße: Empörung – Andacht – Ewigkeit. (Der jüngste Tag, Bd. 49). Leipzig: Kurt Wolff Verlag, o.J. (1918), S. 7. Auch in: Im Stern des Schmerzes. Gedichte 1. Frankfurt/Main: Zweitausendeins, 1990 (Gesammelte Werke. Gedichte 1), S. 197

Dies hier begann

Pentti Saarikoski 

(* 2. September 1937 in Impilahti, Finnland, heute Sowjetunion; † 24. August 1983 in Joensuu)

dies hier begann zwei Jahre vor den Kriegen 
in einem Dorf, das nach dem Krieg an die Sowjetunion fiel
vom Krieg sind nur Feuersbrünste mir in Erinnerung die waren fein
solche gibt es heute nicht mehr .
ich rannte ans Fenster um das Feuerwehrauto zu sehn
die ganze Kindheit lang war ich auf Reisen
ich wurde Kommunist
ich ging auf den Kirchhof Engel erforschen
solche gibt es nicht mehr
sella in curuli struma Nonius sedet *
Bücher hab ich verbrannt in Alexandria
dargestellt einen Stein eine Blume mir eine Kirche gebaut
selber Gedichte geschrieben für mich selbst, der Stuhl ging rauf und runter
jetzt gibt es die Stühle nicht mehr mit so hohen Lehnen wie früher
hohe Dichtung gibt es ich warte auf Geld
Was heißt hier Irrtum, der falsche Weg und der rechte, der Weg
ist nicht ± 2
ich lebe in kommenden Zeiten
Zeitungen lesend von morgen
ich unterstütze Chruschtschow eine Eule tragend aus einem Zimmer ins andre
suche den richtigen Platz ich für sie, Dies hier begann

(*) etwa: Struma (Kropfhals) Nonius sitzt auf dem kurulischen Stuhl. Zeile aus Catull 52, einem politischen Schmähgedicht. „Der Ausdruck kurulischer Stuhl (lateinisch sella curulis Femininum, „Wagenstuhl“) bezeichnete im antiken Rom den Amtsstuhl der höheren Magistraten als Herrschaftszeichen.“ (Wikipedia)

Aus dem Finnischen von Manfred Peter Hein. Aus: Pentti Saarikoski, Ich rede. Gedichte. Neuwied und Berlin: Luchterhand, 1965, S. 59

Die Gefangenen

Ernst Toller 

(geboren am 1. Dezember 1893, heute vor 130 Jahren, in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City)

PFADE ZUR WELT

Wir leben fremd den lauten Dingen,
Die um die Menge fiebernd kreisen,
Wir wandern in den stilleren Geleisen
Und lauschen dem Verborgnen, dem Geringen.

Wir sind dem letzten Regentropfen hingegeben,
Den Farbentupfen rundgeschliffner Kieselsteine,
Ein guter Blick des Wächters auslöscht das Gemeine,
Wir fühlen noch im rohen Worte brüderliches Leben.

Ein Grashalm offenbart des Kosmos reiche Fülle,
Die welke Blume rührt uns wie ein krankes Kind,
Der bunte Kot der Vögel ist nur eine Hülle

Des namenlosen Alls, dem wir verwoben sind.
Ein Wind weht menschlich Lachen aus der Ferne,
Und uns berauscht die hymnische Musik der Sterne.

Aus: Ernst Toller: Gedichte der Gefangenen. Ein Sonettenkreis. München: Kurt Wolff, 1921, S. 20 (Nachdruck: Der jüngste Tag. Die Bücherei einer Epoche. Neu hrsg. u.m.e. dokumentarischen Anhang versehen von Heinz Schöffler. Frankfurt/Main: Scheffler, 1970, S. 1476)

Der jüngste Tag. Die Bücherei einer Epoche

Untauglich

Heute vor 105 Jahren ist der Lyriker Otfried Krzyzanowski in Wien an „Auszehrung“ und „Entkräftung“ gestorben. Man vermutet, dass er das „Vorbild“ von Franz Kafkas Hungerkünstler ist. Für den Kriegsdienst war er aus Gesundheitsgründen nicht tauglich.

Otfried Krzyzanowski 

(* 25. Juni 1886 in Starnberg, Bayern; † 30. November 1918 in Wien)

Der Untaugliche

Es liegt doch ein köstlicher Spott darin,
Sage ich es der Einsamkeit oder einem holden Mädchen?
Es ist doch ein eigentümlicher Hohn Gottes,
Daß ich lebe, wenn Tausende sterben.

Es ist doch ein köstliches Ausruhn,
Sage ich es der Einsamkeit oder einem holden Mädchen.
Ich danke es der ewigen Hoheit
Der Nacht, daß ich froh bin zu atmen.

Aus: Versensporn 31. Otfried Krzyzanowski. Jena: Edition Poesie schmeckt gut, 2018, S. 20

Otfried Krzyzanowski: Unser täglich Gift. Gedichte. Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1919 (= Der jüngste Tag, Bd. 67), hier online

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5 % Licht

Thomas Kunst

ALLES NUR EINE SACHE VON SEKUNDEN.
Die Wochen mit Blut im Urin.
Das Zähneputzen in der Küche.
Die Mitschuld der Glühbirne 
Im Flur vor der Toilettentür.
Der Umbau des Bades in einen 
Nicht so verräterischen, 
Kachellosen Garten.
Das Horten der alten Birnen.
Der dickere Wendeldraht im Kopf.
Die Stoßfestigkeit bei Erschütterungen.
Die fünfundneunzig Prozent Wärme.
Das Ende der Zuversicht.
Der Direktkontakt zu den Anbietern.
Die Sekunden in den Sekunden.
Die fünf Prozent Licht.

Aus: Thomas Kunst, Kolonien und Manschettenknöpfe. Gedichte. Berlin: Suhrkamp, 2017, S. 45

Revisited

Martin Knepper

AHNUNG UND GEGENWART REVISITED

Eichendorff nervt ungeheuer.
Dieses frömmelnde Bescheiden
in romantischem Gemäuer
kann ich überhaupt nicht leiden.

Wiesen, Lerchen, Jäger, Klüfte,
Fräuleins zartgestimmt, meist blässlich,
und die frühlingslinden Düfte:
Also ich find sowas grässlich.

Doch dann weht aus ein paar Seiten
ein Idyll, ein liebes, kleines
her, und du kannst nicht bestreiten:
Ist schon hübsch; nur halt nicht meines.

Waldkönig, Gottesknöterich, Stahleiche

Stan Lafleur

ich bin Waldkönig, Waldkaiser, Waldkonzentrat. mein Tod 
wird sein eine Waldmeisterbowle, ein gerührter Grünfink 
noch gelb hinterm Schnabel. ich werde den Mond durch 
den Hinterhof rollen. im großen ganzen bin ich Himmels-

streichler, Gottesknöterich, hastiger Häher herrschaftliches 
Heim. Korrespondentenstadl für Blaubitze und -meise 
Blaubeerfresserchens stille Nachtmelodie, für ein Weilchen 
zugeneigt den Veilchen. geairbrusht wachse ich in Chrom-

mooren, ich bin Stahleiche, radioaktiv. mein Standbein 
in den Tiefen der Geschichte gestreckter Standpunkt, ich 
bin ein grauer Fruchtkorb aus zu Buchstaben gehauenen 
Wurzeln. ruppige Rinde, die an rolligen Rücken reibt

Fahrradleuchten!

Aus: Jahrbuch der Lyrik 2021. Hrsg. Christoph Buchwald und Carolin Callies. Frankfurt/Main: Schöffling, 2021, S. 58