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Tom de Toys, 26.11.2022 @ G&GN-INSTITUT (g-gn.de)
NA(c)HRUF auf HME
2005 traf ich Enzensberger zufällig eine halbe Stunde vor seiner Lesung an der Tür zum Konzertsaal auf dem 5.ilb (Internationales Literaturfestival Berlin), in dessen Rahmenprogramm ich selber involviert war, da ich als Mitglied der Literaturgruppe „INUNDAUSWÄNDIG“ [1] Türsprechanlagen-Lesungen in diversen Wohnungen am Ku’damm machte. Enzensberger wollte in den Saal, um sich auf seinen Auftritt vorzubereiten, aber ich versperrte ihm wie ein Türsteher den Weg und erklärte ihm mit ernster Miene: „Tut mir leid, hier ist noch kein Einlass!“ Er schaute mich völlig überrascht an, erkannte aber an meinem unterdrückten Grinsen die Lage und antwortete mir mit seinem eigenen Humor: „Doch, ich darf das, weil ich der lesende Autor bin.“ Als ich darauf erwiderte „Das kann ja jeder behaupten, der berühmte Enzensberger zu sein. Außerdem kommt hier sowieso keiner ohne Ticket rein“, zeigte er mir seinen Personalausweis und behauptete siegessicher: „Erstens bin ich es tatsächlich und außerdem brauche ich kein Ticket, weil ich es bin.“ Ich prüfte den Namen in seinem Ausweis ganz gründlich, Buchstabe für Buchstabe, verglich das Foto genau mit seinem Gesicht, schaute ihn noch einige Sekunden schweigend an, um ihm dann die erlösende Ansage zu machen: „Na gut, dann mache ich bei Ihnen mal eine Ausnahme. Bitte schön!“ Wir konnten nun unser Lachen nicht mehr zurückhalten und er spürte durch meinen Scherz umso mehr, wie sehr ich mich auf seine Lesung freute…
Tom de Toys, 25.11.2022 in memoriam H. M. Enzensberger (11.11.1929-24.11.2022) © POEMiE™ @ www.Neurogermanistik.de SPIEGELNEUROTISCHE VER(T)EIDIGUNG DER VER(G/L)ORENEN WÖRTERSCHLACHT eigentlich sollte ich anläßlich des todes von Hans Magnus Enzensberger ein gedicht ver- fassen um die systemrelevanz dieses über- literarischen verlustes für die kultur dieses landes auszudrücken doch kann ich mir nicht jedesmal auf die zunge beißen wenn irgend- welche nobelbüchnerheinepreisträger mal wieder den löffel abgeben und ohne besteck in das soeben noch frisch gemähte gras beis- zen wo unbemerkt blumen wachsen die jeden tag unerkannt knospen blühen und welken ohne vom schnitter verschont zu bleiben aber ich will hier keine hermetischen metaphern ins spiel bringen das sowieso schon verloren ist weil die gesellschaft nur jene beachtet die in der reality talkshow thematisiert werden während die nachhaltigen helden erst post- hum mit h für systemrelevante zwecke abge- zockt werden indem man neue preise neue schulen akademien und straßen nach ihnen benennt um mit ihren werken den markt an- zukurbeln der tod ist ein meister gegen die insolvenz - nebenbei: hat hollywood sich die rechte am leben von HME schon gesichert?
[1] Aus der Pressemitteilung der Gruppe von 2004: INUNDAUSWÄNDIG verspricht ein Literaturerlebnis der ungewöhnlichen und eventuell gestörten Art. INUNDAUSWÄNDIG ist eine „gesichtslose“ Autorenlesung FÜR, aber nicht VOR Zuhörern. Sogenannte TürsprecherInnen [2] (ver)stecken (sich) in einer Wohnung und sprechen, flüstern oder schreien ihre 3-5 Minuten langen Texte über den Türlautsprecher nach draußen. Dem Publikum soll eine Art AUDITIVER VOYEURISMUS gegönnt werden, indem durch die Poesie Privates, Intimes, aber auch Alltägliches „von inwändig nach außwändig“ übertragen wird. INUNDAUSWÄNDIG wird durch das Medium zu einer Lesung mit Schutzfaktor und soll ganz besonders ein Podium für solche DichterInnen sein, die bisher noch nicht vor Publikum gelesen haben und sich ausprobieren möchten. So funktioniert es:
A) Klingeln Sie einfach bei INUNDAUSWÄNDIG;
B) Suchen Sie die Nähe zum Türlautsprecher;
C) Bewahren Sie unbedingt Ruhe;
D) Beginnen Sie erneut bei Punkt A, wenn Sie nicht genug kriegen können.
[2] TürsprecherInnen: Mia Frimmer, Martin Tomasik, Nathalie du Prel, Tom de Toys, HEL ToussainT, Ophelia Kampe, Marco Lutz, ibii und Alexander Hahn
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eine wunderbare erinnerung, eine dieser art, die lange lange nachhallt. danke für diesen feinen nachruf samt gedicht.
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