Bella Luna

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Wolfram Malte Fues 2018, © Dirk Skiba

 

Von Wolfram Malte Fues

Spätestens seit Klopstocks „Willkommen o silberner Mond“ und Goethes „Füllest wieder Busch und Tal“ gehört der Mond zum Metaphern-Kanon der deutschsprachigen Lyrik. In anderthalb Versen: „wir lassen die liebe nicht rein hier, bevor sie nicht reif ist, / hier ist mondgebiet.“[1]Auch für Christian Morgenstern:  „Mein Grossvater steht wieder in mir auf, mit seiner Liebe zu Mondscheinnächten […] Ich bin Maler bis in den letzten Blutstropfen hinein – Und das will nun heraus ins Reich des Wortes, des Klanges.“[2]Das verspricht nichts Gutes. Das verspricht klischeeverliebten Spät-Biedermeier oder noch Schlimmeres: jenen „Stil der Stillosigkeit“[3], der die Lyrik der Gründerzeit kennzeichnet, durch deren Natur-Gedichte der Mond oft zieht. Aber ist Morgensterns Schreiben diesem Versprechen treu geblieben? Er selbst sieht es rückblickend offenbar nicht so: „Sie lieben zu vereinfachen und meinen dadurch den Dingen auf den Grund zu kommen. Aber dieser Grund existiert gar nicht, und nur wer ohne Ende auflöst und verunendlichfacht […] wird seinem und allem Leben einigermassen gerecht werden. Alles Vereinfachen tötet.“[4]Was denn nun? Silbernde Nächte mit dem Mond als Inbegriff gattungsgeschichtlich reifer Symbolik oder bloss ein Gestirn unter anderen in einer von vielen möglichen Nächten? Mondsucht oder Mondflucht? Was sagen die Texte?

Auf dem ehernen Tische / Unendlichkeit / liegt unermesslicher Sand gebreitet. / Da streicht ein Bogen / die Tafel an: / Einen Ton / schwingt und klingt/ die fiebernde Fläche. / Und siehe! / Der Sand / erhebt sich und wirbelt / zu tausend Figuren. / Aus ihnen, / den tanzenden / tönenden / glühenden / schlingen sich Tänze, / binden sich Chöre, / winden sich Kränze, / umringen sich, / fliehen sich, finden sich wieder.

Aber das Spiel / der Formen, Farben und Töne / durchbrummt / unaufhörlich, / beherrscht / fürchterlich – unerfasslich / der tiefe Urton.[5]

Was für eine Welt liegt in diesem Gedicht, dem der Übertritt in die Welt des Wort-Klangs offenkundig gelingt? Wie legt es sie aus? Es beginnt in und mit unbestimmt einfacher Allgemeinheit – gibt es einen häufigeren und schlichteren Stoff auf der Erde als Sand? –, die sich endlos verunendlichfacht. In diese ruhende Unbestimmtheit dringt ein ebenfalls einfacher, aber zu präziser Amplitude bestimmter verendlichter Ton, der das Allgemeine in bewegliche Ordnung bringt, seinen Stoff in Figuren auslegt, die sich mit- und ineinander zu Tänzen, Chören und Kränzen ver- und entflechten. Endlos verunendlichfachter Stillstand verwandelt sich in unendlich harmonisierte Bewegung, Entropie in Negentropie. Aber nicht von selbst. Die Verwandlung hat einen einfachen Grund, der sie auslöst und durchführt, konfiguriert und kontrolliert. Und dieser Grund liegt nicht in irgendeinem irgendwie kategorialen Ton, sondern im Urton, im Ursprung der Töne überhaupt, nur über das zu erfassen, was sich von ihm ableitet, und noch darin fürchterlich wie alles Ursprüngliche. (Neu)Platonismus pur. Die Idee des Tones, selbst unhörbar weil unerfasslich, aber alle Hörbarkeit realisierend und regierend, klingt durch die Reflexions-Figuren der Tänze und Chöre hinunter bis in jedes einzelne Sandkorn. „Alles Vereinfachen tötet“? Hier nicht. Im Gegenteil. Alles lebendig Verunendlichfachte entsteht nur aus der Kraft des absolut Einfachen.

Zuß liest ein noch nicht existierendes Gedicht aus altdeutscher Schrift.

Wirklich? Nein. Nicht wirklich. Ich habe bis jetzt die Anfangs- und die Schluss-Strophe des Gedichts unberücksichtigt gelassen. Eingangs-Strophe:

Fernher schwillt / eines Dudelsacks / einförmig-ewigwechselnde / Melodie: / Unaufhörlich / hebt und senkt sich / über dem Urton / ihr unerfassliches Spiel.

Schluss-Strophe:

Fern verschwillt / des Dudelsacks / einförmig-ewigwechselnde / Melodie. / Dorf, Wald, Welt / versinkt mir / schweigend / in Nacht.[6]

Aus dem unendlich Alltäglichen kommt ein Dudelsack-Ton (könnte auch von Flöte Oboe Posaune kommen), umspielt endlos den Urton, trifft ihn irgendwann irgendwie, tut, was ein absolut einfacher Urton tun muss, und verunendlichfacht sich wieder in der Nacht des  Alltäglichen. In der Welt des Gedichts tauschen das Ideale und das Reale den Platz, der ihnen beiden gehört und auf dem sie ein gemeinsames Dasein haben.[7]In dieser Welt ist der Mond Brennpunkt gattungsgeschichtlich herangereifter Symbolik und zugleich bloss ein Himmelskörper unter anderen. Derart unmittelbare Doppeldeutigkeit prägt jeden symbolverdächtigen Gegenstand in Morgensterns Gedichten; in „Palmström“ beispielsweise Palmströms Taschentuch, seinen durchgesetzten Baum, seine umgekehrt aufgehängten Bilder und seine Husten-Pastillen.[8]Auf ihren Mittelpunkt jedoch bringt diese Doppeldeutigkeit „Die Korfsche Uhr“:

Korf erfindet eine Uhr / die mit zwei Paar Zeigern kreist / und damit nach vorn nicht nur, / sondern auch nach rückwärts weist.

Zeigt sie zwei, somit auch zehn; / zeigt sie drei, somit auch neun; / und man braucht nur hinzusehn, / um die Zeit nicht mehr zu scheun.

Denn auf dieser Uhr von Korfen / mit dem janushaften Lauf, / (dazu ward sie so entworfen): / hebt die Zeit sich selber auf.[9]

Von Korfs Uhr sagt nicht nur in bezug auf das Verhältnis des Idealen und des Realen, was die Stunde zu schlagen hat. Sie zeigt überdies in jedem Augen-Blick, der die Uhr-Zeit in sich aufhebt, die unmittelbare Einheit von Gegenwart und Vergangenheit, Aktualität und Tradition, die ihre Extreme nicht zu scheuen braucht, weil sie deren Differenz symbolisierend in sich anreichert und entfaltet. Sie lässt so das Prinzip jenes Geschichts-Begriffs sehen, um den sich Walter Benjamin bemühen wird:

„Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken sondern ebenso ihre Stillstellung. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert.“[10]

„Bella Luna“ ist der Name eines Bettengeschäfts in meiner Nachbarschaft.

 

[1] Maren Kames, luna luna, 3. Aufl. Zürich 2019, S. 27.

[2] An Marie Goettling am 2. Juni 1894; Ges. Werke in einem Band, hg. von Margareta Morgenstern, München 1965, S. 554. – Christian Ernst Bernhard Morgenstern „wurde bekannt als Maler stimmungsvoller Darstellungen der nordischen Natur und der bayerischen Hochebene“ (ebd. S. 592).

[3] Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, München 1965, S.1300.

[4] An Luise Dernburg am 23. Februar 1906; Ges. Werke, ebd. S. 565.

[5] Der Urton; Ges. Werke, ebd. S. 39f. – Das Gedicht ist zentriert gesetzt; nicht nur darin ähnelt es Arno Holz’ „Phantasus“, dessen erstes Heft 1898 in Berlin erschienen ist. Siehe dazu Helmut Henne, Sprachliche Spur der Moderne in Gedichten um 1900: Nietzsche, Holz, George, Rilke, Morgenstern, Berlin/New York 2010. – Morgenstern hat, vermute ich, die Chladnischen Klangfiguren vor Auge und Ohr, wie sie Ernst Florens Fiedrich Chladni in seinem Werk Entdeckungen über die Theorie des Klanges 1787 beschrieben hat. Das sind „Muster, die auf einer mit Sand bestreuten dünnen Platte (…) entstehen, wenn diese in Schwingungen versetzt wird. Dieses geschieht, indem die Platte an einer Kante mit einem Geigenbogen […] bestrichen wird.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Chladnische Klangfigur vom 23.Juni 2020) „Dank ist ihm [Chladni, Vf.] die Welt schuldig, dass er den Klang allen Körpern auf jede Weise zu entlocken, zuletzt sichtbar zu machen verstanden.“ (Goethe, Zur Botanik. Verfolg [1817]; Jubiläumsausgabe, Stuttgart/Berlin 1902ff., Schriften zur Naturwissenschaft, hg. von Max Morris, Bd. 39, S. 320f.)

[6] Ges. Werke, ebd. S. 39 u.f.

[7] Vgl. dazu „Das Grab des Hunds“ aus „Palma Kunkel.“ Ges. Werke, ebd. S. 289f.

[8]   Vgl. dazu Waldemar Fromm, Das Spiel mit den Dingen bei Christian Morgenstern, in: Ders. (hg.), „Ein wirrer Traum entstellte mir die Nacht.“ Neue Perspektiven auf das Werk Christian Morgensterns, Stuttgart 2017, S. 91-106.

[9] Ges. Werke, ebd. S. 250. – Von Korf kann sowas, weil er, wie wir in „Palmström“ mehrfach erfahren, reiner Geist ist; vermutlich ein Versgespinst Palmströms.

[10] Über den Begriff der Geschichte, XVII. These; Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I/2, Frankfurt/M. 1974, S. 702f.

 
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