Sehr geehrter Herr Bundespräsident!

Angelika Janz: Offener Brief

Sehr geehrter Herr Bundespräsident!

Ich schreibe Ihnen, während ich die Sendung von Anne Will zur Frage ostdeutschen AfD-Wahlüberhangs per Kopfhörer verfolge.

Dieser Brief soll kein „Jammerbrief“ werden, sondern Ihnen Analysen aus der betroffenen Region schildern – er richtet sich „eigentlich“ auch an JEDEN, der an der gegenwärtigen Stimmung in der BRD interessiert ist, der viele Details über eine ziemlich vergessene Region am Rande der Republik enthält, in der ich seit 25 Jahren lebe. So bitte ich Sie als ein Kenner sozio-kultureller Verhältnisse im Land, diesen Brief wirklich zu lesen.


Ich bin Ihnen für Ihre Rede zum Tag der Deutschen Einheit dankbar, weil Sie dem Begriff der „Heimat“ einen neuen Akzent im Hinblick auf die Zukunft nachfolgender Generationen hinzugefügt haben – gegen jene Mauern, von denen Sie gesprochen haben in unserem Land. So möchte ich Ihnen hier über eine Mauer zwischen der Realpolitik und Wirtschaft und dem ländlichen „Lebenswert-Raum“ berichten.

Den Menschen gerade im ländlichen Raum wird „die Heimat“ unter den einst geerdeten Füßen weggezogen, und das wohl schon seit Wendebeginn. Heimat wird hier im äußersten Nordosten als ein Wort gehandelt, das im Alltag nicht mehr verwendet werden darf, weil es bei den Verwendern umweglos Rechtstendenzen vermuten lässt.

Seit 25 Jahren lebe ich als westdeutsche Kulturpädagogin im Nordosten. Ich habe eine Reihe von „Heimat-Projekten“ mit den Kindern meiner KInderAkademie realisiert. Z.B. ein Fotoprojekt mit Kita-Kindern „Ich sehe was, was Du nicht siehst“ – und die Fotos zeigten Blicke in die Gärten und Endlosen Energiepflanzenfelder, auf übervolle Aschenbecher an Straßenrändern, die Cameras richteten sich aus den Fenstern der „Platte“ oder auf gegenüberliegende leergezogene Häuserfronten. Ausgestellt in den Schaufenstern des Pasewalker „Woolworth“. Ich arbeite als Einzelkämpferin nach sozio-kulturellem Konzept in kreativer und gewaltpräventiver außerschulischer Bildungsarbeit in verschiedenen Werkstätten auf den Dörfern im Kreis Vorpommern-Greifswald. Meine Eltern waren lebenslang in der SPD – in einem sauberen westlichen Eigenheimdorf. Wenn auch nicht Parteigängerin – so fühle ich mich seit jeher linken Haltungen zum Menschsein verpflichtet. Vom Neigungsberuf Autorin und Bildende Künstlerin habe ich viele Kunst- und Hörspielwerkstätten, 28 Jugendclubs nach der Wende hier im Altkreis Uecker-Randow, heute Vorpommern- Greifswald, wieder aufgebaut, Festivals wie Nordischer Klang, Polnische Woche und Tanztendenzen und viele Ausstellungen im Land M-V organisiert. Diese Arbeit wurde mehrfach überregional, gewissermaßen „platonisch“ (ohne finanzielle Förderung) ausgezeichnet, u.a. mit dem Dt. lokalen Nachhaltigkeitspreis und als „Ausgezeichneter Ort im Land der Ideen“ – die Urkunde war von der Deutschen Bank ausgelobt (was ich mittlerweile als zynisch empfinde) und von Ihrem Vorgänger Joachim Gauck unterschrieben. Mit den Menschen hier teile ich nun eine 25jährige gemeinsame – solidarische – Geschichte. Das Glück, unterscheiden zu können zwischen den demokratischen Lernerfahrungen im Westen und der Erfahrung des „Wachsenmüssens demokratischer Strukturen“ schenkt mir den Blick für die Mängel und auch Vorzüge dieser nordostdeutschen Region. Ihrem Vorvor-Gänger Johannes Rau habe ich auf seinen Wunsch hin in den ersten Jahren nach meiner Übersiedlung aus dem Ruhrgebiet in mehreren Briefen über diese Erfahrungen berichtet, die wohl noch in Ihrem Archiv sein werden. Oft auch bedrückende Berichte, auf die er stets „mutmachend“ antwortete.

Doch mehr als ein Mal stehe ich vor den Abgründen westlich getönter, ignoranter Arroganz und der sie begleitenden zunehmend bedrückenden Hilflosigkeit der Bevölkerug gerade hier im ländlichen Raum am Rand der Republik. Ich hätte Ihnen, als Kennerin der umgebenden Dörfer, in denen ich mit meiner KinderAkademie im ländlichen Raum seit 12 Jahren überwiegend ehrenamtlich arbeite, voraussagen können, in welchen Dörfern AfD und NPD gewählt wird. Keine Überzeugungskreuze wurden da gesetzt. Diese Kreuze sind Synonyme für einen Satz wie „Da es jetzt noch schlimmer als früher ist, ist es sowieso egal, aber das Vertrauen ist schon lange verspielt.“

Denn: Der oft extreme Mangel an Empathie, an Zeichen von Zugehörigkeit/ Solidarität und Verständnis der Regierenden mit den Leuten hier auf dem Land ist nicht zu übersehen! Die Sehnsuchtsalternative „Landleben“ gibt es hier „nimmer“. Wie kann man hier weiter leben, wenn tagtäglich die Landmaschienen einige hundert Male durchs Dorf donnern, wo das Trinkwasser einige bedenkliche Grenzwerte aufweist, das Glyphosat ungehindert in die Gärten gespritzt wird, die sich an den Rändern der Felder befinden, wenn die letzten Natur- und Lebenswert-Räume mit monströsen Windenergieparks (mit 230 m hohen Mühlen) verstört und schließlich vernichtet werden ohne, dass die Betroffenen Einfluss nehmen, die Betreiber aber durchaus mit Vernichtung von Greifvogelhorsten Tatsachen schaffen können, wenn die Gülle und Gärreste aus Europas größten offenen Depots zum Himmel stinken ebenso wie die in den abgeholzten Waldgebieten einbetonierten Biogasanlagen wie Pilze in den Himmel schießen und Schlafen bei offenem Fenster ein Traum bleibt, ja, wenn Sie in der Dämmerung zu Erntezeiten der Energiepflanzen von nahen ohrenbetäubenden Schüssen aufgeschreckt werden, weil 10 Meter weiter mit den sich lichtenden Feldern durch Erntewagen das Wild in die Enge getrieben und in Massen von alljährlich herbei gereisten Westjägern – hier aus Vechta und Aachen – abgeschossen und in den Westen zum Verkauf fort transportiert wird. Ich erlebte es – erst gestern bei einer Geburtstagsfeier – vom Wohnzimmer meiner Nachbarn aus! Lebt man noch gern auf dem Lande, wenn wie in diesem Sommer einige Tage hintereinander Transall-Maschinen im Tiefflug – einen beim ersten Mal existenzialen Schock auslösend – über die Wälder, Häuser und Gärten jagen, ein Versuchsprojekt zwecks Vergrämung der Greifvögel für die geplante Installierung der großen Windparks, ging das Gerücht, nachdem die Flugaufsichtsbehörde dazu keine Angaben machen konnte.

„Meine“ Kinder kommen meist ohne Frühstück in die Werkstätten, verlieren ihren Hortplatz, wenn die Eltern nur minimal zu viel verdienen, werden als Begabte nicht wirklich gefördert, weil man sie in den zunehmend vor Schließung bedrohten Regionalschulen halten will. Man verzagt, wenn man Sie im Altherren- Club der betuchten Unternehmer der nächsten Kleinstadt – nach einem mit Publikationen und Ausstellung mit Arbeitsbeispielen illustrierten Vortrag über meine außerschulischen Werkstätten und Exkursionen – verächtlich ermahnt und regelrecht abbügelt, doch erstmal die Bildungsgutscheine der Hartz-Kinder auszufüllen, bevor Sie hier das Ansinnen formulieren, einen Zuschuss von wenigen hundert Euro für Museumsbesuche und Werkstätten zu erhalten. Weil halt gerade die Fahrkosten im ländlichen Raum am höchsten sind (Honorare, Aufwandsentschädigungen? Das erwarten wir hier schon lange nicht mehr!). Ja, und diese Herren sind zumeist Jäger, um aufs letzte Bild zurückzukommen – und einer der hier den Alltag der Leute beherrschenden Agronome, die hier intensive Landwirtschaft auf dem Rücken von Bevölkerung und Natur betreiben (in der Regel aus den „alten“ Bundesländern) – wird demnächst für die Villa seiner Jagdgesellschaft einige Kilometer weiter die Summe von 200.00 Euro aus EU-Mitteln erhalten, das wurde bereits mit Ausnahme von 2 Personen von der Jury abgenickt. (Auch für die Bearbeitung und Betreuung eines überaus umfangreichen Antrages braucht es Steuermittel.)

Ja, den Menschen wird „die Heimat“ (ein Wort, das hier nicht mehr verwendet werden darf und in Zusammenhang mit „Heimatpflege“ kürzlich aus einer soziokulturellen Dorf-Vereinssatzung gestrichen werden musste) unter den einst geerdeten Füßen der vielzitierten DDR-Mängelwirtschaft weggezogen. Sie werden verächtlich und zynisch von Politikern (teilweise immer noch die Wendehälse oder eben „Wessis“) und der Wirtschaft behandelt, stehen oft in gemeinsamer Front gegen die Bevölkerung wie bei der Durchsetzung monströser Windparks in unzerschnittenen Naturräumen. Die kleinen Bauern, zuvor nie politisch motiviert, stehen plötzlich schüchtern und stumm mit selbstgemalten Plakaten vor dem Gemeindesaal vor einer Sitzung ihrer Vertreter, die sie kaum eines Blickes würdigen. Wie sollen sich die Menschen hier fühlen? Für unsere wirklich vergessene und zunehmend hier und da kritisch auf Missstände zeigende Region wurde aus Schwerin ein „Vorpommern-Kommissar“ eingesetzt, ausgestattet mit 2 Millionen. Als ich ihn kürzlich mit einer ehrenamtlich mitarbeitenden Mutter besuchte und um einen Zuschuss für unsere Werkstätten bat, bot er mir als auch Vorsitzender der Volkssolidarität an, für das „sehr gute Honorar der Volkssolidarität“ Werkstätten in deren Kitas abzuhalten – sinngemäß: Von dem Honorar fallen dann die nötigen Gelder für Ihre Ausflüge mit den Kindern ab. * Ob auch er mit seinem Gehalt seine Projekte finanziert? Für mich als Autorin, Kulturarbeiterin und Bildende Künstlerin, als jemand aus dem politisch eher linken Spektrum ist nun bald „Schicht“ und die Kraft gegen diese Form undemokratischer Administration in nachhaltiger soziokultureller und existenzieller Unsicherheit nach zweieinhalb Jahrzehnten verbraucht. Die Geduld ist zu Ende und die Frage lautet: Weitertun? Wegziehen nach so vielen Jahren des Vertrautseins mit Region, Landschaft und Menschen? Die Kinder im ländlichen Raum, die Eltern oft arbeits- und mental mut- und orientierungslos, oft krank, als letzte Glieder dieser Gesellschaftskette, für die allein ich diese Arbeit tun konnte, im Stich lassen?

Mein Mann, der mich in meiner Arbeit immer beraten und begleitet hat, starb vor 4 Monaten plötzlich. Angesichts der derzeitigen Situation eine komplexe Herausforderung, hier zu bleiben.

Ich erwarte Ihre geschätzte Antwort mit Spannung.

Mit herzlichen Grüßen aus dem herbstlichen Aschersleben in Vorpommern

Angelika Janz
KInderAkademie im ländlichen Raum
Aschersleben 32
17379 Ferdinandshof

 

Fotos: Angelika Janz

*) Zu dem Vorpommern-Passus möchte ich nach einem Telefonat am 9.10.17 jenes Missverständnis ausräumen, es handle sich um ein Angebot, ehrenamtliche Arbeit durch zusätzlich zu übernehmende Aufgaben zu finanzieren.  
Herr Vorpommern-Kommissar Patrick Dahlemann wollte in dem sinngemäß geschilderten  Gespräch ausdrücklich seinen Wunsch bekunden, dass über die Volkssolidarität, die verstärkt Jugendprojekte realisiert, die Chance bestehe, die KinderAkademie, (die seit 12 Jahren ohne Unterbrechung nachhaltig arbeitet, jedoch nicht nachhaltig gefördert wird) über dauerhafte Projekte so zu fördern, dass alle Beteiligten künftig auf gute und faire Weise berücksichtigt werden.

7 Comments on “Sehr geehrter Herr Bundespräsident!

  1. Danke, liebe Leute, es ist gut, auf diese Weise überhaupt bemerkt zu werden. Allzu spät mein Kommentar. Nun war der Bundespräsident also in Anklam, ich sah es gestern im NDR. Begrüßt von einer Handvoll ausgesuchter Ducherower und 2 Lamas. Nö, abgehängt wirke das Ganze ja nun nicht, so der Bundespräsident. In der Tagesschau aber hörte es sich doch anders an: Da warnte er vor der Isolierung ländlicher Räume, – hat er wohl diesen Brief irgendwann doch gelesen? Wir machen auf unserer „Insel“ am Rande der Republik jedenfalls weiter z. B. so: https://www.vernunftkraft.de/protestgang-fuer-artenschutz-aus-verbundenheit-fuer-die-wiese/ – und augenblicklich wird eine Ausstellung im Herrenhaus Heinrichsruh von Angelika Janz gezeigt, die zu „Kunstoffen“ an allen 3 Pfingsttagen zu sehen ist und in deren Rahmen am Pfingstdienstag wieder eine ganztägige Kunst-und Elemente-Werkstatt mit 25 Dorfkindern stattfindet – natürlich ehrenamtlich und generationenübergreifend mit Hilfe einiger Seniorinnen, „patente Paten“ der Kinder seit vielen Jahren.

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  2. Toller Text. Ich erlebe als Exil-Thüringer in Hessen diese Herablassung am eigenen Leib. Letztes Beispiel war die diesjährige Bundestagswahl; nach der ich im Büro als Afd-Wähler begrüßt wurde. Sachliche Hinweise auf die Herkunft/Traditionslinien dieser Partei wurden entweder nicht verstanden bzw. aktiv ignoriert. Da die Leute sich generell nicht mehr für wirtschaftliche/politische Themen interessieren, können Sie auch nicht erkennen, dass ich politisch links stehe – aber das ist ja in westdeutschland die Ursünde schlechthin.

    Jeder Anruf einer Kollegin, die im Aussendienst in Sachsen arbeitet, wird büroübergreifend mit dem Imitieren des Dialektes kommentiert. Und dann wundern sich die Leute, wenn ich nach wie vor Thüringen als Heimat betrachte und über Hessen nur als da Exil rede.

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  3. Vielen Dank für diese Darstellung, Nur wer die Nähe zu den Betroffenen aufnimmt sieht die Komplexität der sozio-kulturellen Auswirkungen; leider ist die Politik oft weit entfernt von denen, die in unserer Gesellschaft die Bodenhaftung verlieren. Dass in den beschriebenen Bereichen gerne gelobt aber ungerne (und oft erst nach langwierigen und/oder komplizierten Antragsverfahren) finanzielle Unterstützung geleistet wird, ist sicherlich ein bundesweites Problem.

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  4. Pingback: Offener Brief | Ossiblock

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