1. Erbost

Ein Gedicht auf der Kulturseite der „Freien Presse“ löst mitunter mehr Emotionen aus als eine Nachricht auf der Titelseite. Warum reizen zeitgenössische Gedichte bis zum Zorn? Gespräch mit einem Dichter.

Es ist eine kleine Rubrik mit großer Wirkung. Seit Jahren druckt die „Freie Presse“ auf der Kulturseite das „Gedicht der Woche“, darunter altehrwürdige wie von Goethe, aber auch solche von Dichtern, die noch keine 40 Jahre alt sind. Es sind vor allem letztere, die für Diskussionen sorgen. Das Gedicht versteht doch kein Mensch, schreiben manche Leser dann erbost. Muss man auch nicht immer und sofort oder überhaupt, meint Norbert Hummelt.

Kleiner Auszug aus dem Gespräch:

Freie Presse: Aber warum fällt es Lesern zeitgenössischer Gedichte mitunter so schwer, sich auf einen längeren Weg einzulassen, auch freie Gedanken und Bilder, die beim Lesen aus einem selbst heraus kommen, als Interpretation zuzulassen?

Norbert Hummelt: Ich glaube, das hängt mit unserer Schulbildung zusammen. Generationen von Schülern wurden mit der Frage gequält: Was will uns der Dichter sagen? Ich kann Ihnen versichern: Kein Dichter schreibt, um Gegenstand dieser Frage zu sein. Er schreibt, um etwas aus seinem Inneren eine Form zu geben. Ein Leser ist nie zu dumm, ein Gedicht zu verstehen. Er ist aber vielleicht zu scheu, eine Grenze zu überwinden, um sich mit sperrigeren Gedichten zu befassen. Die Bedeutung von Gedichten liegt aber gerade darin, dass Expertentum keine Voraussetzung ist, um sich mit ihnen beschäftigen zu können. Allerdings gibt es in der jüngeren Gegenwartslyrik auch einen Trend zur Sprachmontage, die tatsächlich nur Experten erreicht. Das ist ein Trend, den ich bedaure.

Freie Presse: Mitunter reicht es aber schon, dass Wörter in Gedichten gänzlich klein geschrieben sind und Satzzeichen verschwinden, um den Unmut der Leser zu erleben.

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