31. Abwesenheit

Kurz vor ihrem Tod im Februar 2012 hat die polnische Lyrikerin Wisława Szymborska, Nobelpreisträgerin von 1996, noch einen Gedichtband zusammengestellt, der auf Deutsch erscheinen sollte: «Glückliche Liebe und andere Gedichte». Nun ist er da, eine Auswahl aus Altem und Neuem, ein kostbares Geschenk. Mit etwas zu essen und diesem Buch vor der Nase könnte man einsame Wochen verbringen. Sie wären angefüllt mit tausend Anregungen, die einen umtreiben, auch wenn sie listiger und einfacher nicht hätten dargeboten werden können.

Schon die ersten Verse warten mit einem Gedanken auf, den man als Leitgedanken fürs Ganze nehmen möchte, obwohl diese Dichterin auf Leitgedanken eigentlich gar nichts gibt. Er lautet: Aus Zufall bin ich da, so wie ich bin, und versuche zu sein. Dieses erste Gedicht, «Abwesenheit», streift jene, die an unserer Stelle leben könnten, die aber aus einem oft unscheinbaren Grund die Existenz verpasst haben: «Es fehlte nicht viel, / und meine Mutter hätte Herrn Zbigniew B. / aus Zdunska Wola geheiratet. / Hätten sie eine Tochter gehabt, wäre das nicht ich gewesen. / Vielleicht eine mit besserem Gedächtnis für Namen und Gesichter . . .» Eine kindlich verrückte Überlegung, die hinter allem steht, was Wisława Szymborska geschrieben hat: All die Ichs auf der Welt machen viel Aufhebens und sind doch haarscharf an der Nicht-Existenz vorbeigeschrammt. / Beatrice von Matt, NZZ 7.12.

Wisława Szymborska: Glückliche Liebe und andere Gedichte, Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall und Karl Dedecius. Nachbemerkung von Adam Zagajewski, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2012. 103 S., Fr. 27.40.

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