Ehestreit vor 1040 Jahren

Noch einmal zu Michitsunas Mutter, Fujiwara no Michitsuna no Haha (jap. 藤原道綱母; * 936?, † 2. Juni 995) (siehe hier vor 2 Tagen). Sie schrieb im 10. Jahrhundert ein Tagebuch, „Kagerō nikki“, in dem sie ausführlich die Zerrüttung ihrer Ehe schildert. Ihr Mann war Fujiwara no Kanei (929-990). Er war ein führender Politiker seiner Zeit, sie nennt ihn im Tagebuch „der Prinz“. Ihren Namen kennen wir nicht, man nennt sie behelfsweise nach Ehemann und Sohn: „Fujiwara-Clan Michitsunas Mutter“.

Eine deutsche Übersetzung des Tagebuchs erschien unter dem Titel Kagerô Nikki: Tagebuch einer japanischen Edelfrau ums Jahr 980 bei Niehans, 1955. Diese war mir nicht zugänglich, ich stütze mich auf zwei englische Ausgaben und das Album „36 Dichterinnen des Alten Japan“.

Imaginäres Porträt der Dichterin aus einem 1801 erschienen Album mit Kalligrafien von 36 Gedichten von 36 Dichterinnen des alten Japan (9.-13. Jahrhundert).

In ihrem Tagebuch schreibt sie:

Mein Haus und mein Garten waren dem Untergang geweiht. Dem Prinzen schien es nicht in den Sinn zu kommen, wie sehr es mich verletzte, dass er kam und ging, ohne mir seine Hilfe anzubieten, ja ohne zu bemerken, dass etwas nicht stimmte. Er sagte, er sei beschäftigt, und vielleicht war er das auch; vielleicht waren seine Pflichten wichtiger als das Unkraut in meinem Garten.

Und so blickte ich auf die Verwüstung, und der achte Monat kam. Eines Tages, als wir es uns zusammen recht gemütlich gemacht hatten, führte eine Reihe von Kleinigkeiten zu heftigen Worten auf beiden Seiten, und er verließ uns in einem Anfall von Wut. Er rief unseren Sohn auf die Veranda und verkündete, dass er nicht mehr kommen wolle. Der Junge kam bitterlich weinend ins Zimmer zurück. Er weigerte sich, meine Fragen zu beantworten, aber ich wusste sehr wohl, was geschehen war, und aus Angst vor den wilden Verdrehungen, die meine Frauen aus der Angelegenheit machen könnten, hörte ich auf, ihn zu befragen, und versuchte stattdessen, ihn zu trösten.

Während einer außergewöhnlich langen Zeitspanne, fünf oder sechs Tage, hatte ich nicht einmal eine Nachricht vom Prinzen. Ich war verärgert und fassungslos: Dass er so auf etwas reagierte, was für mich nur ein Scherz zu sein schien, zeigte deutlich die Instabilität unserer Beziehung.

In der Tat könnte eine solche Lappalie zum endgültigen Bruch führen. Während ich über diese Möglichkeit nachdachte, stieß ich auf eine Schale mit Wasser, mit der er sich am Tag des Streits die Haare gewaschen hatte. Sie war mit einer Staubschicht bedeckt und verdeutlichte mit schmerzlicher Klarheit die Wendung, die wir genommen hatten.

Ein Vers formte sich in meinem Kopf:

„Ist alles zu Ende? Gäbe es ein Spiegelbild, könnte ich es fragen, aber selbst der Wasserspiegel, den er hinterlassen hat, hat sich getrübt.“

Schließlich erschien er, aber unser Gespräch war so unangenehm wie zuvor. Es schien keine Erleichterung von der Düsternis zu geben, die zum vorherrschenden Ton in meinem Leben geworden war.

Das Gedicht ist ein Waka oder Tanka, es besteht im Original aus 31 Silben. 31 Silben (Tanka) oder 17 Silben (Haiku) sind eine feste Größe in der japanischen Lyrik. Vor über 1000 Jahren berichtete ein Dichter (Tsurayuki) über ein Festival, bei dem ein Dichter ein Gedicht mit 37 Silben vortrug und die Zuschauer, gewöhnt an den Rhythmus der 31 Silben, brachen in schallendes Gelächter aus.

Für die Verfasser aber scheint die Zahl 36 bedeutsam zu sein. In jener klassischen Zeit der japanischen Lyrik entstand aus einem Streit zwischen zwei führenden Literaturkritikern, welcher der bedeutendere von zwei Dichtern war, die Veranstaltung von imaginären „Dichterwettstreiten“, bei denen je 18 alte und 18 neue Dichter jeweils gegeneinandergestellt und beurteilt wurden. Daraus entstand eine Sammlung von 36 unsterblichen Dichtern und Dichterinnen und nach deren Vorbild auch eine von 36 unsterblichen Dichterinnen. Michitsunas Mutter ist in beiden vertreten. (Hinzu kommt, dass von der Dichterin 36 Gedichte überliefert sind.) Entnommen habe ich ihr Gedicht jenem Album von 1801, das die 36 Gedichte in Kalligrafien von 36 Schülerinnen einer Kalligrafieschule präsentiert. Der amerikanische Herausgeber, der 1991 das Exemplar der New York Public Library in bibliophiler Aufmachung nachdruckte (deutsche Ausgabe bei DuMont 1992) schreibt über dieses Gedicht:

Michitsuna no haha (ca. 936-995), »Mutter von (Fujiwara) Michitsuna«, war eine der herausragendsten Schriftstellerinnen der Heian-Epoche. Sie ist die Verfasserin des Kagerō nikki, einer literarischen Autobiographie, die die Zeitspanne von 945 bis 974 umfaßt und bis ins einzelne die zunehmende Entfremdung von ihrem Ehemann Fujiwara no Kaneie (929-990), einer führenden politischen Gestalt jener Zeit, beschreibt. Sie stand auch als Lyrikerin in hohem Ansehen. Sechsunddreißig ihrer Gedichte finden sich in kaiserlichen Anthologien.

Das vorliegende Gedicht ist im Kagerō nikki und im Liebeslyrik-Teil des Shinkokin wakashū enthalten, wo es die Überschrift trägt: »Einst, als der Kanzler im Ruhestand (Kaneie) ihr lange Zeit keinen Besuch abgestattet hatte, kämmte sie ihr Haar und nahm eine Schale, um es naß zu machen. Sie schrieb dieses Gedicht über den Anblick der mit Wasser gefüllten Schale.«

Diese Begebenheit ist im Kagerō nikki ausführlich beschrieben: Kaneie war gekommen, um den Tag mit ihr zu verbringen, nachdem sie sich eine Zeitlang beiläufig unterhalten hatten, begann sie, sein Verhalten zu kritisieren. Kaneie war verletzt und stolzierte von dannen, wobei er nie wieder zurückzukehren versprach. Nach fünf oder sechs Tagen schlich sich bei ihr die Befürchtung ein, er könne es ernst gemeint haben. Sie bemerkte, daß die Schale mit Reiswasser, die er an dem Tag, als er sie verlassen hatte, zum Richten seines Haars benutzt hatte, noch in dem Raum stand; auf der Wasseroberfläche hatte sich mittlerweile eine dünne Staubschicht angesammelt. Mit einem Mal erkannte sie mit Bestürzung, wie lange es schon her war, seit er sie zuletzt besucht hatte, und sie verfaßte dieses Gedicht. An eben diesem Tag kehrte er zurück und benahm sich, als sei nichts vorgefallen.

Die Wasserschale wird als Symbol häuslicher Eintracht verwendet, denn das Herrichten des Haars, indem man es mit Reiswasser durchkämmte, war eine äußerst intime Verrichtung, zu der man nur eine persönliche Dienerin und die engsten Familienangehörigen zuließ. Hier muß die Dichterin die Launen ihres Mannes über sich ergehen lassen: Wenn sie sich darüber beschwert, daß er sie vernachlässigt, bestraft er sie durch noch größere Vernachlässi­gung.

Das vorliegende Gedicht zeichnet sich durch Bündigkeit, bedeutungsreiche Schlüsselwörter und effektverstärkende Konnotationen aus. Mit dem ersten Wort, tae, bezeichnet man zum Beispiel sowohl den Tod von Lebewesen als auch das Ende einer Beziehung, während die letzte Zeile, mikusa inikeri, »die Wassergräser sind wuchernd gewachsen«, ein aus Nachlässigkeit entstandenes wucherndes Wachstum impliziert.

Das Traurigkeit evozierende Bild wild wuchernder Wasserpflanzen kann zurückverfolgt werden bis zu dem folgenden Gedicht von Yamabe no Akahito (8. Jh.), der, angeregt durch den verfallenen Garten eines einst berühmten Aristokraten, schrieb:

inishie no 
furuki tokoro wa
toshi fukami
ike no nagisa ni
mikusa oinikeri
Der tiefe Abgrund 
der Jahre! Des Altertums
Schwere drückt den Ort,
und ganz überwuchert ist
das Uferrund des Teiches.

Hier die Kalligrafie von Michitsuna no hahas Gedicht.

Aus: Sechsunddreißig Dichterinnen des Alten Japan. Höfische Dichtkunst der Heian- und Kamakura-Periode. 9. bis 13. Jahrhundert. Ein Album mit Illustrationen von Chōbunsai Eishi. Einführung, Kommentare und Übersetzungen von Andrew J. Pekarik. Aus dem Japanischen und Amerikanischen von Peter Pörtner. Köln: DuMont Buchverlag. In Zusammenarbeit mit der New York Public Library, 1991, Block 6L.

Ich habe noch zwei jeweils abweichende Textfassungen aus englischen Quellen:

taenuru ka 
kage dani araba
tofu beki wo
katami no midzu ha
mikusawi ni keri

Is this the end?
I would ask your reflection
if it were there, but
on the water left behind as a
memento, a film has formed.

Aus: The Kagero Diary. A Woman’s Autobiographical Text from Tenth-Century Japan. Translated with an Introduction and Notes by Sonja Arntzen. Center for Japanese Studies The University of Michigan Ann Arbor, 1997, S. 135

1239

Composed when the Lay Monk and Regent had not come to visit for some time
as she saw that the bowl he used when dressing his hair still had water in it

taenuru ka
kage dani mieba
tofu beki wo
katami no midzu ha
mikusa winikeri

is it over now
were there but a reflection
in these waters you
left I might inquire but they
are now overgrown with weeds

Mother of Michitsuna, Major Captain of the Right Gate Guards

The Lay Monk and Regent was Fujiwara no Kaneie, father of Michitsuna.

Aus: Shinkokinshū. New Collection of Poems Ancient and Modern. Translated and introduced by Laurel Rasplica Rodd. LEIDEN | BOSTON: Brill, 2015

1 Comments on “Ehestreit vor 1040 Jahren

  1. Schön alles bei einander zu haben! Bei der Kalligrafie muss ich passen. Das abschließende Gedicht von Yamabe-no Akahito ist übrigens aus der Man’yoo-Sammlung, Nummer 378
    (modern:) 古のふるき堤は年深み池のなぎさに水草生ひにけり (manyoogana: 昔者之 舊堤者 年深 池之瀲尒 水草生尒家里)
    inisihe-no / huruki tutumi-ha / tosi huka-mi / ike-no nagisa-ni / mi-kusa ohi-ni-keri. Den Garten von dem verstorbenen Fujiwara-no Fuhito besingend. Ein „tutumi“ (tsutsumi) ist eine Art Deich.

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