Der tiefe Abgrund

Fujiwara no Michitsuna no Haha (jap. 藤原道綱母; * 936?, † 2. Juni 995), japanische Dichterin und Tagebuchautorin. Ihr eigentlicher Name ist unbekannt, man benennt sie nach ihrem Sohn Fujiwara no Michitsuna (haha bedeutet „Mutter“). Sie ist bedeutend wegen ihres Tagebuchs Kagerō nikki, aber auch als Dichterin berühmt. 36 ihrer Gedichte wurden in kaiserlichen Anthologien gesammelt. https://lyrikwiki.de/mediawiki/index.php/Fujiwara_no_Michitsuna_no_Haha

Mit ihrem Tagebuch war sie „die erste, die aus ihren inneren Kämpfen und Leiden als Frau Literatur machte. Teilweise wird sie deswegen auch als Begründerin des japanischen Romangenres des Ich-Romans (shishōsetsu) angesehen. Eine deutsche Übersetzung von Satoshi Tsukakoshi erschien unter dem Titel Kagerô Nikki: Tagebuch einer japanischen Edelfrau ums Jahr 980 bei Niehans, 1955.“ (Wikipedia)

Sowohl im Tagebuch als im heutigen Gedicht berichtet sie von Spannungen in ihrer Ehe.

taenuru ka
kage dane mieba
toubeki ni
katami no mizu wa
mikusa inikeri
Ist alles vorbei?
Das würd ich dich fragen,
auch nur dein Abbild,
doch ganz überwuchert ist
das Wasser der Erinnrung.

Der Anfang des Gedichts, tae, bezeichnet sowohl den Tod von Lebewesen als auch das Ende einer Beziehung, lese ich bei Pekarik. Und die letzte Zeile, mikusa inikeri, wörtlich: „die Wassergräser sind wuchernd gewachsen“, impliziert wucherndes Wachstum durch Nachlässigkeit.

Zur Poetik japanischer Lyrik gehört unbedingt das Reden in Zitaten und Anspielungen. Die letzte Zeile, „mikusa inikeri“, evoziert ein Gedicht des Dichters Yamabe no Akahito (8. Jahrhundert), dessen letzte Zeile lautet: „mikusa oinikeri“. Wie man sieht, kommen die „überwuchernden Pflanzen“ im Original in der letzten Zeile vor, in der Übersetzung in der vorletzten. Akahitos Gedicht beschreibt den Eindruck eines vernachlässigten Gartens, es lautet:

Der tiefe Abgrund 
der Jahre! Des Altertums
Schwere drückt den Ort,
und ganz überwuchert ist
das Uferrund des Teiches.

So reden die Gedichte miteinander über die Jahrhunderte.

Beide Gedichte aus: Sechsunddreißig Dichterinnen des Alten Japan. Höfische Dichtkunst der Heian- und Kamakura-Periode. 9. bis 13. Jahrhundert. Ein Album mit Illustrationen von Chōbunsai Eishi. Einführung, Kommentare und Übersetzungen von Andrew J. Pekarik. Aus dem Japanischen und Amerikanischen von Peter Pörtner. Köln: DuMont Buchverlag. In Zusammenarbeit mit der New York Public Library, 1991, Block 6L.

Hier eine englische Version des Gedichts (hier mit Überschrift).

Is our love over? 

If only I could ask of your phantom
reflected on the surface
of the pond we made
as a symbol of our love
but the surface is covered with duckweed.

Aus: Burning Heart. Women Poets of Japan.Translated and edited by Kenneth Rexroth and Ikuko Atsumi. (A New Directions Book) 1977. New Directions paperback 527.

6 Comments on “Der tiefe Abgrund

  1. müssen die Japanologen mal klären. Die „Neue Sammlung alter und moderner Gedichte“ (shin-kokin-waka-shu) ist aus dem Jahr 1205. Auf die Bilder würde ich mich freuen. In der Übersetzung von Seitensticker wird die Schale mit Wasser erwähnt („a bowl of water he had been using to dress his hair the day of the quarrel”  und „were there a refection I might ask it, but even the water-mirror he left has clouded over“. https://archive.org/details/gossameryearskag008800/page/59/mode/2up

    Jedenfalls kein Teich, oder “duckweed”!

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    • Von mir aus dürfen die Japanologen auch unterschiedliche Meinungen behalten 😉 Ihr Tagebuch ist aber insofern die Originalquelle, geschrieben in den 970er Jahren. Sie nahm Gedichte mit hinein und kommentierte sie dann. Viele ihrer Gedichte wurden später in kaiserliche Sammlungen aufgenommen. – Beneidenswert lange Überlieferung von Gedichten, die nicht wie bei uns (und wie ich glaube, schon bei den alten Griechen, was die lyrischen Gedichte betrifft) als Nebensache gelten und deshalb sorgfältig und amtlich überliefert werden. Homer, das staatstragende Epos, ist im Wortlaut überliefert, Sappho, die Lyrik, fast ganz verschwunden.

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      • Ist das nicht wunderbar! Die Japaner betrachteten ihre Kalligraphie früher als heilig, nicht als Abfall und sollten, wenn sie jemals entsorgt werden sollte, verbrannt werden. Sogar die gedruckten Texte sollten nicht auf Plätzen platziert werden, wo Leute sitzen würden. Ich glaube, nur die Juden gehen mit ihren Texten sorgfältiger um.

        P.S.: Das Partikel „dane“ sollte „dani“ sein, sicherlich ein Tippfehler. => https://archive.org/details/FlorenzAltjapanischesWorterbuch/page/n13/mode/2up?q=dani

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      • Ich werde wahrscheinlich morgen noch einmal einen ganzen Post über Michitsunas Mutter machen, mit allem, was ich bei mir finde. Vielleicht können Sie dann den japanischen Text aus der Kalligrafie überprüfen.

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  2. 絶えぬるか影だにあらば.問ふべきをかたみの水は水草ゐにけり

    Tayenuru ka
    kage dani mieba araba
    tohubeki ni
    katami-no mizu wa
    mikusa winikeri

    Puh, ein schwieriges Gedicht. Es stammt aus der Shinkokinwaka-Sammlung, Gedicht Nummer 1239. Ein Kommentator geht davon aus, dass vom Geliebten ein Gefäß mit Wasser für die Haar- oder Gesichtspflege als „Erinnerung“ (katami) zurückgeblieben ist. In diesem Wasser spiegelte sich vor einiger Zeit sein Gesicht, aber das Wasser ist trübe geworden, und die Dichterin stellt sich vor, dass diese Trübung wie das Überwuchern eines Teiches mit Wasserlinsen wirkt, wodurch sich nichts mehr spiegelt. Dabei würde sie vielleicht auf ein Gedicht aus einer vorigen kaiserlichen Sammlung anspielen, das besagt, dass niemand mehr Wasser schöpft aus einem Brunnen, so dass dort Wasserlinsen wachsen.

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    • Offenbar gibt es von diesem Gedicht verschiedene Fassungen und Überlieferungen. Die von mir mitgeteilte stammt nicht aus den Shinkokinwaka. Sie ist zunächst aus einer Sammlung von Chobunsai Eishi (1756-1829), der im 18. Jahrhundert ein Album mit Texten von 36 Dichterinnen zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert herausgab. Das Album stellt die Gedichte in Kalligraphie neben ein imaginiertes Porträt der Dichterinnen. A. Pekarik, Diretor des Museum of Asian Art New York, kommentiert in dem bibliophil ausgestatteten Band jedes Gedicht ausführlich auf einer ganzen Seite, so dass pro Gedicht 2 Bild- und 2 Textseiten entstehen. Aus dem Kommentar erfährt man, dass diese Fassung in ihrem Tagebuch Kagerō nikki steht und darin von ihr ausführlich kommentiert wird, so dass wir die Selbstinterpretation der Autorin haben. Sie bezieht es direkt auf ihre Ehe. Ich werde Bild und Text nachreichen.

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