Elke Erb † 22. Januar 2024

Die Dichterin Elke Erb ist gestorben. Unter den nicht wenigen Zeilen aus ihren Gedichten, die mir im Kopf spuken, fällt mir als erste der Anfang des ersten Gedichts ein, das ich von ihr las. Es war wahrscheinlich im Herbst 1970, ich war Student in Rostock DDR, die Dozentin las ein Gedicht vor, ich erinnere ihren Tonfall:

Das Flachland vor Leipzig ist kahl, 
als läge xx auf ihm auf

So erinnere ich mich oft, zu xx gibt es Varianten im Gedächtnis. Die Dozentin schien ratlos, es kam mir so vor, als wollte sie das Gedicht anschuldigen wegen ihrer Ratlosigkeit, aber ich bin ihr dankbar, dass sie neue Lyrik in den Kurs brachte. Ich kaufte damals die Anthologie, aus der sie las. Verstand ich das Gedicht? Ich las es wieder und wieder, es passiert was im Gedicht. Es handelt nicht ein Thema ab, wie die Jahreszeitengedichte und die politischen Gedichte aus dem Schulunterricht. Es sagt etwas, und beim Sagen fällt es sich in die Gedanken, ein neues Thema taucht auf, dem die Gedanken nachgehn. Hier ist es ein Landschaftsbild (ich bin selbst im Flachland vor Leipzig aufgewachsen), ein Vergleich stellt sich ein „als läge“, der Vergleich provoziert den nächsten Vergleich, das Gelb der Wegweiser, „wie Briefkästen“, „oder wie Tabak“, schon gehn die Gedanken in andere Richtung. Drei Pünktchen… Eine Erinnerung, ein Dorf im Flachland, „dort sah mich still eine Gans an“, ihre Augen rufen „Wissen“ auf, bei dem bleibt es nicht, weil die Bilder, die Wörter, die Gedanken im Fluss sind. Später fand ich das immer wieder, ich bleibe mal beim bisherigen Material, wenn etwas „auftaucht“, kommt womöglich ein Tauchgang, und wenn die Gedanken „nachgehn“, ist das Uhrwerk nicht fern, in der Mitte des Gedichts passiert es mit dem Wort „aufgezogen“, das ohne Absicht die Uhr ins Spiel bringt und die Gedanken weitertreibt.

Das Flachland vor Leipzig

Das Flachland vor Leipzig ist kahl,
als läge der Mittag streng auf ihm auf.
Hecken, die Gräben, Buschgekräusel und Baum
Wegweiser, gelb wie Briefkästen, staubig,
oder wie Tabak daher, der fällt
einem Alten krümelnd aufs Knie …
Ich war mal in Tüschen, dort sah
mich still eine Gans an, die in Reihe ging, weiß
an einer feuchten Scheune vorbei.
Links, sah mich an, links, und ihr wißt, das Auge
ist starr, grün beringt.
Aber was wollte sie melden, aus ihren fernen
Steinzeiten kommend, die Gattung, aufgezogen immer, Uhr,
immer die gleiche, sich gleiche, die Uhr
an vergänglichen Wänden, aber was dann,
wenn keine Wände mehr stehn, keine gebaut werden, wenn
der riesige Erdwind allein
in den Staub stürzt und heult?
Uhren, ihr Uhren, wer sorgt,
daß ihr euch nicht totschlagt am Ende, wer sorgt?
Ich war mal in Tüschen, dort sah
mich still eine Gans an, die in Reihe ging, weiß.

Hier aus ihrem ersten Buch: Elke Erb: Gutachten. Poesie und Prosa. Berlin und Weimar: Aufbau, 1975, S. 23.

Ein Zitat zum Schluss. Nein, kein Schluss.

Ist Poesie unerklärlich?


Erb: Ich bin gegen diese Behauptung. Ich erlaube sie nicht. Ich habe eine Regung, ich begegne dieser Regung aufmerksam, beobachte sie, folge ihr. Diese Regung entspringt doch aber einem ganz normalen Ich, ist doch nicht schon Poesie selber, Poesie ist nicht unerklärlicher als irgend etwas anderes Lebendiges. Hinter der Behauptung, sie sei unerklärlich, steckt der Anspruch einer tötenden Auflösung. Oder eine Diffamierung des Erklärens.

(Interview mit Elke Erb in der Zeitschrift L’image, März 92, in: Der wilde Forst, der tiefe Wald. Auskünfte in Prosa. Göttingen 1995. S. 222)

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