Der Osten leuchtet

L&Poe Journal #03

Lyrik zum Schmökern

Das pralle peinliche Leben verdichtet im Kompendium „Der Osten leuchtet. Poetische Töne aus Europa“, hg. v Ralf-Rainer Rygulla und Marco Sagurna

Von Paula C. Georges

Im Dorf / bleibt der Mensch mit sich selbst allein  (Gleb Schulpjakow)

Dafür knallt der Schmerz Nummer dreizehn richtig  (Waleri Semskich)

Ein Lesemarathon sei das gewesen. Jedes einzelne in Frage kommende Gedicht abgeschrieben, vorgelesen, der besonderen poetischen Töne wegen, die im Westen so nicht praktiziert würden.

92 Autor:innen mit Wurzeln aus 21 Ländern und ihre Übersetzer:innen haben die Herausgeber schließlich ausgewählt in ein 400 Seiten schweres, großzügig gesetztes Kompendium. Und das Schönste: Es wird nie langweilig zu lesen!

Witz, Wut, Widerstand prägen den Beat dieser erzählenden Verse.

Wortbabys suchten mit dem Mund die Brüste der Dinge.  (Rodica Draghincescu). Und die Dinge phantasmagorieren: Ottó Tolnai, findet in einem Handschuh ein fünfgliedriges Engelsgeschlechtsteil.  Gleb Schulpjakows Mantel macht sich über einen Menschen her: und der Mensch hängt in der Garderobe, /vergessen, nutzlos, / und atmet schwer, / mit dem ausgestreckten / rosafarbenen Futter 

Mütter und Väter werden besungen, Alltag, der Nonsens der Politik.

Meine Mutter ist mein Kind: Lasst uns unsere Mutter wie ein Kind adoptieren […] Lasst sie ihre grauhaarigen Köpfe an unsere Brust lehnen … ein Wiegenlied für die Hände meiner Mutter. ( Likokeli, Albanien)

Der Dichter Nschan Abasjan aus Armenien schreibt ein Gedicht über seinen Vater,  der sich nicht mit wichtigen Weltfragen befasst. Vielmehr versuche er mit einer Kerze die jungen Gemüsepflanzen vor dem Erfrieren zu retten.

Keine Angst vor dem Gewöhnlichen: Ein Apfelstrudelrezept sei die Lyrik, die seine Mutter lese, so Georgi Gospodinov: bäckst du es, wird es Strudel, doch bis dahin ist es ein Gedicht. Grüß dich, Drillbohrer  – Semjon Hanin über eine Kunden-Handwerker-Situation. Nicht aufgeben, nicht aufgeben, ermuntert Jan Faktor einen jungen Georg, dessen leer gebliebene Folgen vergeblicher Lyrikversuche komisch gelistet werden. 

Manche Gedichte entstehen, indem sie ihr Verhindern beschreiben: Selbstironisch zählt Eka Kewanischwili  in einem langen Haushaltstagstext auf, wie ein Gedicht dann schließlich nichtsdestotrotz entsteht: Und wusch / und bügelte und räumte auf / und wischte ab. / Und schrieb dies hier, dieses Gedicht das Eka Kewanischwili / schon den ganzen lieben Tag lang schreiben wollte. 

Staat und Gesellschaft kommen nur despektierlich oder als Tortur vor: in der Nähe tagte das Kroatische Parlament, / deshalb ist mir nur Unsinn eingefallen, / gefährlicher Unsinn. (Marco Pocaĉar)

Andrei Sen-Senkow, berichtet von ausgeklügelten minimalinvasiven Methoden der Stasi, die Menschen in ihren Wohnungen um den Verstand bringen … über Monate hinweg. In Arpi Woskanjans, Seminar über Staatsführung wird vor Rückzug und Einsamkeit gewarnt, weil der einsame Mensch nachdenkt und daraus kein / Nutzen erwächst, sondern nur Gefahr.

Gewalt, Krieg – so präsent,  dass Bela Chekurishvilis Stimmen behaupten: Das ist doch gar kein echter Krieg […] Wir haben uns an diesen Krach gewöhnt./ Sie schießen ja auch nicht rund um die Uhr / und die Milizen lernen langsam, wie man sich benimmt, / sie sind jetzt schon viel netter als am Anfang.

Anna Terék aus Serbien findet die zerschossenen Scheiben /der Autos am schönsten. lma Rakusa betrachtet eine Brille:  ein Flaumgewicht / der es trug, fiel auf  einem / Feld in Galizien neunzehn / hundertsechzehn […] Blicke, die sich in keinem Jenseits treffen.

Diese Nacht, wie Panzer rollt sie / über mein Hirn, schreibt Amanda Aizpuriete, Lettland. Miodrag Pavlović aus Serbien ist sich sicher: sie werden dem neuen Sterben ihre Jugend leihen. Von unseren Sofatruppen spricht der Ukrainer Alexander Kabanow  in Facebook-Post. Aber: wir hören nicht auf zu singen / über dem Abgrund des Krieges, versichert (sich?) der Belarusse Dimitri Strozew.

Eine auf Alkoholismus konditionierte uniformierte Männlichkeit bedroht Frauen, Kinder, Andersartige. Scharen von Neonazis schwankten wie Algen. (Sergej Tenjatnikow). Anna Teréks  Jelena hofft, nie wieder einen Jungen zu bekommen, damit  dieses Kind keinen Schnaps trinken muss.

Für Sergej Tenjatnikow  ist auch der Tourist ein Eroberer und Zerstörer:  du ziehst in  eine Stadt wie der Sieger ein /[…] probierst die Lebensweise eines Aristokraten. 

Den Ländern  des  Balkan sei es unmöglich / das gleiche zu träumen  (Luljeta Lleshanaku). In Georgi Gospodinovs Abzählreim reimt sich: Bulgarien ist ein Löwe / vor einem Schälchen Meer / der Ozean blutig ringsumher 

Ihr Klagevorrat sei in diesen Tagen wie geplündert, konstatiert Dagmara KrausIn ihrem wehbuch  entwirft die polnisch-deutsche  Lyrikerin einen mehrteiligen Zyklus antiker Klageriten.  Bei einer Staatsbestattung habe man sich professionelle Träner gegönnt, um angemessen durchzujammern.  

Poesie, Tiere und das Vergehen dauern.

In manchen Gegenden gebe es mehr Poeten / als alle Raubtiere zusammen genommen Eugeniusz Tkaczyszyn-Dyckis Schmetterling […] beglückt oder beunglückt in Anbetracht / der Tatsache dass er von nirgendwo herflog. Dimitri Wodennikow schreibt seitenlang Verse auf eine Hündin, nach deren Tod sich Gott über ihn beugen werde mit seinem riesigen, listigen Maul wie ein himmlischer Bernhardiner. 

Aber wer schert sich heute noch um Lyrik:  wie schade, dass man wegen Gedichten /nicht mehr verbannt, getötet wird wie früher (Alexander Kabanow) 

So viele Dinge habe man gelernt in diesem Bildungsroman mit Ende, der Tod komme darin nicht vor: zu seinen Schmerzen zu sprechen / an einer Krücke zu gehen / […]  und jetzt geht er / vorbereitet auf etwas / das wir nicht kennen  (Georgi Gospodinow). meine rippen vermache ich gott zu künftigen evas (Faruk Ŝehiĉ). Wir hatten eine kleine Teenytochter, klagt Nese Yasin. Ein Glaubenwollen [..]  Wenn ich sterbe / werde ich so tun als wenn es nicht so wäre / damit du nicht traurig sein musst. 

Die Herausgeber deuten es im Vorwort bereits an. Diese Gedichte würden in den hiesigen Lyrikpreismoden vermutlich eher ignoriert: zu wenig ziseliert, zu wenig Pop, zu wenig autonom von den Mühen und dem Saft des gelebten Lebens. Ich finde sie spannend.

Ralf-Rainer Rygulla / Marco Sagurna (Hge.) Der Osten leuchtet: Poetische Töne aus Europa.  Axel Dielmann-Verlag Frankfurt, 2022 , großformatiges Paperback 400 Seiten, (ISBN 978-3-86638-306-7)

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