Ohne Meinungsfreiheit muß ein Land verkommen

Aus einem Interview, das Hans Christoph Buch mit Wolfgang Kubin führte (NZZ 17.12.). Der Sinologe wurde am 17. Dezember 70.

Unter den Poeten der Gegenwart ist mir Bei Dao der liebste . Wir kommen beide vom spanischen «modernismo» her. Deswegen sage ich spasseshalber, er brauche seine Gedichte gar nicht erst auf Chinesisch zu schreiben. Sein von mir übersetztes «Buch der Niederlage» (Hanser) enthält Wahnsinnstexte. Ich könnte in Tränen ausbrechen!

Vor ein paar Jahren erregten Sie mit der These Aufsehen, die chinesische Gegenwartsliteratur sei ästhetisch unbedarft und uninteressant, zumal der Roman. Das zeitgenössische China habe traditionelle Tugenden wie Zurückhaltung und Bescheidenheit aufgegeben zugunsten von Konsumwahn und blindem Materialismus. Trifft das heute noch zu?

Leider noch mehr als bisher. Das Problem ist, dass weltweit nur umfangreiche Romane als Literatur gelten, daneben werden weder Lyrik noch Essays oder Dramen als Literatur gewürdigt, obwohl China mit Poeten und Essayisten Weltliteratur zu bieten hat. Die aber werden kaum gelesen, und wenn, dann eher in Deutschland als im Reich der Mitte.

Sie kritisieren offen Missstände in China, aber oft wirft man Ihnen vor, nicht für die politischen Dissidenten Partei ergriffen und die real existierende Unterdrückung klein- oder schöngeredet zu haben.

Journalisten, die mich kritisieren, haben als Gegner Chinas Regierung und die Kommunistische Partei vor Augen, aber eine differenzierte Darstellung hat in den deutschen Medien kaum eine Chance, deshalb werde ich hie und da angefeindet. Dabei rede ich an chinesischen Universitäten nicht anders als in Bonn. Mündlich werde ich nicht zensiert, schriftlich dagegen immer. Ich sage in Peking, was ich denke, das ist kein Problem. Was ich sage oder schreibe, darf jedoch nicht immer gedruckt werden. Ich sage offen und öffentlich, dass meine Werke auf Chinesisch zensiert sind. Kein Parteisekretär stellt mich dafür zur Rede. Wenn ich in China Theologie lehre, unterrichte ich natürlich gegen den Strich der Partei, und meine Studenten schreiben höchst kritische Klausuren. Niemand schreitet ein. Mündlich, privat und an den Universitäten sind wir in China so frei wie in Deutschland, aber noch nicht in schriftlich publizierter Form. Ich sage: noch nicht! Denn kein Land kann sich ohne Meinungsfreiheit so entwickeln, dass es nicht verkommt.

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