68. Ingolds Tagebuch

Seit seinen frühen Studienjahren verfasst Ingold Übersetzungen, Essays und Romane wie zuletzt „Alias“ und „Noch ein Leben für John Potocki“. Im Alter von 72 Jahren legte er nun ein 1.020-seitiges Tagebuch vor. Es umfasst vordergründig die vergangenen fünf Jahre, ist jedoch mit Erinnerungen an weiter zurückliegende Zeiten angereichert. Außerdem lässt Ingold eigene und fremde Lyrik und Prosa in den Text einfließen, ebenso kursiv gedruckte Einträge seines Traumtagebuchs, aber auch Konzert- und Filmkritiken. Dazwischen finden sich immer wieder die für ein Tagebuch typischen Alltagssorgen des Autors, Anekdoten und poetisch geschilderte Naturspaziergänge, in denen ein Wald aussieht wie „eine leergefegte gotische Kathedrale“.

Viel Raum widmet Ingold seinen Betrachtungen von Lyrik und Prosa. Er will vergessene Literaten wieder ins Bewusstsein rücken, darauf weist er selbst oft ausdrücklich hin. Wenn er über weitgehend unbekannte Schriftsteller wie Kazimierz Brandys oder Eugen Gottlob Winkler schreibt und deren stilistische Fähigkeiten ausführlich untersucht, überträgt sich Ingolds Begeisterung schnell auf den Leser. Auch den tschechischen Journalisten und Schriftsteller Richard Weiner, dessen Werk meist mit dem Kafkas assoziiert wird, ruft er zurück ins Gedächtnis.

Doch so hoch Ingold einerseits lobt, so hart und sachlich fundiert geht er andere Schriftsteller an. Die vom Feuilleton gepriesene Dichterin Ann Cotten dient ihm als Beispiel, um sich über „Sprachverluderung“ und defizitäre Sprachformen auszulassen. Aber auch an manchen „sakralisierten Klassikern“ findet er kaum ein gutes Wort: Thomas Mann nennt er einen „Phrasendrescher“, die Prosa von James Joyce hat in Ingolds Augen „Patina“ angesetzt, die Lyrik von Tomas Tranströmer bezeichnet er als „Ansichtskartengrüße“.

Unter den Anekdoten aus dem Alltag des Slawisten sind besonders diejenigen spannend, die er über seinen Studienaufenthalt in der Tschechoslowakei im Jahr 1968 erzählt. So half Ingold, tschechische Texte ins Ausland zu schmuggeln, die nach der Niederschlagung des Prager Frühlings nicht erscheinen durften. Die Schilderungen von Jan Skácel und dessen Nekrolog auf František Halas sind berührend und in dieser Form sicher kaum anderswo zu lesen. / Peter Huch, Prager Zeitung

Felix Philipp Ingold: Leben & Werk. Tagesberichte zur Jetztzeit. Matthes & Seitz, Berlin 2014, 1.020 Seiten, 49,90 Euro, ISBN 978-395-757-008-6

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