77. Biographische Legende

Am Ursprung der Kling’schen Autorschaft steht, so will es die biographische Legende (1), zunächst nicht der schreibende Autor, sondern der Leser. Prägnant formuliert hat Kling diese Herkunft aus der Lektüre – und damit, wie zu sehen sein wird, aus der großväterlichen Bibliothek – in einem meines Wissens bisher unpublizierten poetologischen Kurzessay; weitere Formulierungen gingen voran und folgten. Zum Einstieg bietet sich die unpublizierte Version der Legende an.

1)

Als ›biographische Legende‹ sei hier und im Folgenden eine spezifische Praxis der Autorinszenierung verstanden (zu Autorinszenierungen vgl. zuletzt Christoph Jürgensen / Gerhard Kaiser (Hg.): Schriftstellerischer Inszenierungspraktiken – Geschichte und Typologie. Heidelberg 2011), die als Selbstzuschreibung von Biographemen durch den Autor bestimmt werden kann. Der Begriff geht zurück auf Boris Tomaševskij, der bemerkt, das Dichter ihren Werken »ideale biographische Legenden [vorausschicken]«; diese stellen »die literarische Konzeption des Lebens des Dichters dar, eine Konzeption, die notwendig ist als wahrnehmbarer Hintergrund des literarischen Werks« (Boris Tomaševskij: Literatur und Biographie. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. und kommentiert von Fotis Jannidis u.a. Stuttgart 2000, S. 49‐61, hier: S. 57). Im Zusammenspiel mit anderen Selbst‐ und Fremdinszenierungen konstituieren biographische Legenden das, was man mit Ludwig Fischer ›Autorfigur‹ nennen kann (Ludwig Fischer: Der fliegende Robert. Zu Hans Magnus Enzensbergers Ambitionen und Kapriolen. In: Christine Künzel / Jörg Schönert (Hg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg 2007, S. 145‐175, insbes. die theoretischen Reflexionen S. 147ff.).

Aus: Trilcke, Peer: Historisches Rauschen. Das geschichtslyrische Werk Thomas Klings
The Historical Poetry of Thomas Kling
Dissertation (PDF, 4.817 KB) |

5 Comments on “77. Biographische Legende

  1. danke für den hinweis auf das buch über inszenierungspraktiken! ein schönes doppelbeispiel für das thema „biografische legenden“ generell (ferre spricht nebenbei über apollinaire und sich selbst – und singt natürlich herzzerreißend gut, dazu ebenso wundervoll klavierspielend)

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  2. Ich glaube nicht, dass Kling bei der ‚jüngeren Generation‘ generell auf Skepsis oder Ablehnung stößt. (Wäre freilich die Frage, wer die jüngere Generation ist. Über die Lektüren der, sagen wir, nach 1985 Geborenen weiß ich nicht viel.) In den (sagen wir) 1970er Jahrgängen dürfte es nicht sehr viele geben, die sich ernsthaft mit dem deutschsprachigen Gedicht beschäftigen und dabei an Kling gänzlich vorbeigekommen wären. Sein Eintrag in die poetischen Sprachregister der letzten Jahrzehnte ist einfach zu massiv und originell, um ohne Verluste in Sachen Möglichkeitshorizonte des Gedichts ignoriert werden zu können (und er ist folglich auch nicht ignoriert worden, keinesfalls). Dies vielleicht als relativ neutrale Formulierung, die jedenfalls mir entspricht. Ich bin kein Anhänger Klings. Mir sind wenige von seinen Texten je wirklich zu Herzen gegangen, sein Gestus als Diskursteilnehmer und Sprecher ist nervtötend. Was er aber im Gedicht veranstaltet – und ich denke, er ist vor allem in den 90er Jahren mit den Bänden morsch und Fernhandel ganz auf seiner Höhe gewesen – ist ein paar Stunden oder Tage genaueren Hinsehens definitiv wert. Eine hoch komplexe Veranstaltung, bei der man was lernen kann, oder wie sagt man?

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  3. Bei manchen jüngeren Lyrikern dürfte sich die Freude wohl in Grenzen halten, soweit sie Thomas Kling bisher überhaupt wahrgenommen haben. So schrieb vor kurzem einer von ihnen in der Lyrikzeitung: „Who the fuck is eigentlich dieser kling …?“. Es ist schon seltsam, daß „dieser kling“, dessen „Auswertung der Flugdaten“ neben Ulf Stolterfohts „holzrauch über heslach“ und Friederike Mayröckers „dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif“ für mich zu den großartigsten deutschsprachigen Lyrikbänden nach der Jahrtausendwende zählt, offenbar in der jungen Generation auf Skepsis oder gar Ablehnung stößt. Diesen Eindruck habe ich jedenfalls nach verschiedenen schriftlichen und mündlichen Äußerungen neuerer Autorinnen und Autoren gewonnen. Vielleicht liegt es einfach daran, daß sie sich zu wenig mit dem Werk dieses herausragenden Lyrikers beschäftigt haben.
    Dank an Peer Trilcke und Michael Gratz dafür, daß sie uns die Lektüre der Dissertation ermöglichen.

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    • Pardon, aber wie kommen Sie darauf? Mir fallen auf Anhieb mindestens 20 „jüngere Lyriker[]“ (sogar: Leserinnen und Leser, oder sogar: [aspirierende] Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler) ein, die Kling gelesen haben und ihn schätzen. Das Interesse ist definitiv da und dass er / sein Werk nicht unumstritten ist, umso besser. Wissenschaftliche Aufbereitung allerdings ist noch ziemlich mau, insofern Schritt in die usw.

      Das „Who the fuck…“ stammt übrigens von jmd, der Kling durchaus kennt.

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  4. Wow, eine fast 600-seitige Arbeit über Kling, da kann man auch schon vor der (selektiven 🙂 Lektüre mal einen Ausruf der freudigen Überraschung wagen. – „Oh!“

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