90. Das Problem mit dem Vergessen (und dem Nichtwissenwollen)

In Deutschland lebende Juden werden gern als Fachleute für Antisemitismus oder die Politik Israels befragt. In Deutschland lebende Rumänen müssen her, wenn es um die Enttarnung eines Securitatespitzels geht. Interessieren sie uns sonst? Lesen wir ihre Bücher? Ja, wenn sie von Herta Müller und Oskar Pastior stammen. (Nur nicht zu viel auf einmal. Siehe auch die Prenzlauer-Berg-Namensliste von Wawerzinek gestern). Zumal es bei Pastior jetzt Ausreden gibt, um in Zukunft etwas kürzer zu treten. (Ha, was bin ich sarkastisch. Wer von denen, die jetzt über Pastiors Verstrickung schreiben, hat wohl seine Bücher gelesen? Außer den „Rumänen“ natürlich.)

Das mächtige Häuflein der besonders in den 70er Jahren in Ceausescus Rumänien hervorgetretenen Autoren lebt zum allergrößten Teil seit mehr als 20 Jahren in Deutschland. Sie schreiben deutsche Gedichte in Deutschland – deutsche Gegenwartsliteratur. Aber Gedichtbände werden generell wenig gekauft und wenig besprochen. Günter Eichs Seufzer aus dem Jahr 1966 fällt einem ein:

In Saloniki
weiß ich einen, der mich liest,
und in Bad Nauheim.
Das sind schon zwei.

So gesehen Grund für Zuversicht (Eichs Gedicht trägt diesen Titel).

Wenn es schon für ihre neuen Gedichte mau aussieht, wie erst mit ihrem „Frühwerk“ aus Rumänien? Gut steht es da fast nur bei Pastior und Herta Müller, und sonst? Einige Anthologien könnten dem neugierigen Leser helfen*.

Horst Samson, geboren 1954 in Rumänien, veröffentlichte in sieben Jahren vier Bücher in deutscher Sprache, bevor er 1987 in die Bundesrepublik emigrierte. Er lebt länger in der Bundesrepublik als 16 Millionen ehemalige DDR-Bürger (aber ist Generalsekretär des EXIL-P.E.N., Sektion Deutschsprachige Länder).

Jetzt erschien ein Band, der einen großen Teil des „Frühwerks“ von Horst Samson wieder bzw. für Deutschland erstmals zugänglich macht. In einem kleinen Verlag in Ludwigsburg: POP (das Wort steht nicht für Popliteratur, sondern ist ein rumänischer Name, Traian Pop). Gedichte aus Rumänien zusammen mit welchen aus den ersten Jahren des Exils.

Eichs zwei Leser erreicht Samson spielend. Natürlich Theo Breuer, der alles liest, was ihm manche zum Nachteil auslegen. In seinem Buch „Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000“. Sistig: Edition YE 2005, buchstabiert er auf S. 188 die deutsche Lyrik mit Bezug auf die von Michael Braun und Michael Buselmeier herausgegebene Anthologie „Das verlorene Alphabet“ von Astel bis Ziebritzky, ich zitiere Buchstaben P bis W:

Pastiors Pocken, Rühmkorfs Rhythmus, Samsons Sehnsucht, Techels Tulpen, Waterhouse-Wörter

Das wären Leser Nummer zwei und drei! Michael Braun war es auch, der ein unter Kennern berühmtes Gedicht Samsons (!) vor einigen Wochen in seinen Deutschlandfunk-Lyrikkalender einrückte.

Horst Samson: Und wenn du willst, vergiss, Gedichte. Mit einem Nachwort von Andreas Saurer (Bern/Schweiz). (LYRIK). Pop Verlag 2010. 130 S. ISBN: 978-3-937139-92-0 Preis: 14,90 Euro.

Gibt es schon Rezensionen? Eine flattert ins Postfach, erschienen in Rumänien. Siehe da, der vierte Leser!

Hier im Zitat und unterm Strich vollständig.

Die Gedichte dieses Bandes sind alle schon mal in anderen Büchern Horst Samsons erschienen – und zwar im Zeitraum 1981 – 1994. Man merkt hier, wie sinnvoll es ist, Literatur immer wieder neu aufzulegen. Wer vergessen will, muss ja nicht zugreifen. Wer aber damals nicht zugegriffen hat und vielleicht einen Geschmackswandel, eine Interessenverschiebung oder gar eine kulturelle Neuorientierung durchgemacht hat, ist mit diesem Band bestens bedient. Zu den Lesern können aber auch Menschen gehören, die im Ersterscheinungszeitraum noch gar nicht geboren waren. …

Trotz des Bleihimmels der Diktatur, der über diesen Gedichten schwebt, zwinkert Samson oft mit der SPRACHE. Der Dichter lässt sich nicht gehen. Da ist für Selbstmitleid kein Platz. Aber für zweideutige Pointen ist allemal Stoff, Erzählstoff – auch in Notsituationen – vorhanden: „die leute die einsteigen mit großen koffern /die fortfahren unablässig fortfahren / zu reden“ (EISENBAHNFAHRT GROSSSANKTNIKOLAUS – TEMESWAR). Und für die anderen, die Rumänen, kommt keine aggressive Abneigung auf. Nichts derlei ist zu spüren, obwohl es im Alltag schon manchmal auch anders aussah.

Man muss als Rezensent loslassen können. Es gibt Gedichtbände, da hat man das Bedürfnis, zu jedem Gedicht etwas zu sagen – zum Glück. „Und wenn du willst, vergiss“ ist ein solcher Band.

/ Mark Jahr, Karpatenrundschau 9.9. 2010, S. 11

*) Einer da? Aber bitte, gern doch:

  • Der Herbst stöbert in den Blättern. Deutschsprachige Lyrik aus Rumänien. Hrsg. Peter Motzan. Berlin (Ost): Volk und Welt 1984
  • Ein Pronomen ist verhaftet worden. Texte der Aktionsgruppe Banat. Hrsg. Ernest Wichner. Frankfurt /Main: Suhrkamp 1992
  • Das Land am Nebentisch. Texte und Zeichen aus Siebenbürgen, dem Banat und den Orten versuchter Ankunft. Hrsg. Ernest Wichner. Leipzig: Reclam 1993

Zur Information:

  • Peter Motzan: Rumäniendeutsche Literatur der 70er bis 90er Jahre. In: Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts. Hrsg. Ursula Heukenkamp / Peter Geist. Berlin: Erich Schmidt 2007

Das Problem mit dem Vergessen

Zu: Horst Samson: Und wenn du willst, vergiss – Gedichte; mit einem Nachwort von Andreas Saurer; POP Verlag, Ludwigsburg 2010; 126 Seiten; ISBN 978-3-937139-92-0; Euro 14,90

Die Gedichte dieses Bandes sind alle schon mal in anderen Büchern Horst Samsons erschienen – und zwar im Zeitraum 1981 – 1994. Man merkt hier, wie sinnvoll es ist, Literatur immer wieder neu aufzulegen. Wer vergessen will, muss ja nicht zugreifen. Wer aber damals nicht zugegriffen hat und vielleicht einen Geschmackswandel, eine Interessenverschiebung oder gar eine kulturelle Neuorientierung durchgemacht hat, ist mit diesem Band bestens bedient. Zu den Lesern können aber auch Menschen gehören, die im Ersterscheinungszeitraum noch gar nicht geboren waren.

TIEFFLUG (1981). Diese Gedichte kommen aus Rumänien. Kleinschrift. Und sie erzählen. Das hat nichts mit introvertiertem Befindlichkeitsgejammer zu tun. Die epische Lyrik Horst Samsons ist fest im damaligen Leben unter der „Obhut“ der Diktatur verankert. Es war dieZeit, in der man sich oft dachte, „es geht weiter“, und sich dabei bewusst wurde: „wir sind weniger geworden“. (ES GEHT WEITER). Dabei könnten die Hoffnungen durchaus konträre Ziele anvisiert haben: Während die einen hofften, es werde mit der Auswanderung weitergehen – irgendwann ist man dann selber an der Reihe – , hofften andere, es werde vor Ort weitergehen, auch wenn so viele weggehen.

Wer aus diesen Breitengraden kommt, weiß, was mit den vielen Andeutungen gemeint ist. „bruder schnitzt /sieht fußball / kauft fischfutter / und meint / dass bald etwas kommen müsse“. (FAMILIE ’80).

Und man fühlt sich selbst irgendwie behaust in diesen Gedichten, „heute / den vierundzwanzigsten jänner / wider durch den rauchfang / gekledert… / zweiter feber / bei rumänischen grosbauer / kindtsdaufe gespihlt/“ (SCHNEEHÜTTE) usw. Das ist auch meines Vaters Orthographie, nur hatte der das Glück, solche Tagebücher nicht im Bărăgan führen zu können oder zu müssen.

Trotz des Bleihimmels der Diktatur, der über diesen Gedichten schwebt, zwinkert Samson oft mit der SPRACHE. Der Dichter lässt sich nicht gehen. Da ist für Selbstmitleid kein Platz. Aber für zweideutige Pointen ist allemal Stoff, Erzählstoff – auch in Notsituationen – vorhanden: „die leute die einsteigen mit großen koffern /die fortfahren unablässig fortfahren / zu reden“ (EISENBAHNFAHRT GROSSSANKTNIKOLAUS – TEMESWAR). Und für die anderen, die Rumänen, kommt keine aggressive Abneigung auf. Nichts derlei ist zu spüren, obwohl es im Alltag schon manchmal auch anders aussah.

REIBFLÄCHE (1982). Man muss als Rezensent loslassen können. Es gibt Gedichtbände, da hat man das Bedürfnis, zu jedem Gedicht etwas zu sagen – zum Glück. „Und wenn du willst, vergiss“ ist ein solcher Band. Der Wiederverkaufswert meiner Bücher – Pardon, der Bücher in meinem Besitz – ist gleich Null. Verkritzelt, unterstrichen, Pfeile, Linien usw. Noch aber kann ich auf Seite 63 entziffern: „ – dieses Gedicht wird ja wohl kaum in Rumänien erschienen sein.“ Das ist für mich Anlass genug zum Wiederlesen.

FESTSTELLUNGEN ÜBER EIN DORF AUF DEM MOND. Nur zwei Beispiele von vielen aus diesem Gedicht: „der anpassungszwang / wächst schneller / als ein bambustrieb // (…)//im konsumladen/gibt’s

außer Zigaretten und tennisschuhen /nur noch den Verkäufer“. REIBFLÄCHE ist 1982 im Kriterion Verlag Bukarest erschienen, werde ich eines Besseren belehrt. Wo waren da die Zensurfuzzis, frage ich mich. Das war aber eine schwache Vorstellung, Genossen!

Da gibt es dann auch die apolitischen Themen. Den Generationenkonflikt zum Beispiel. ES DARF GEWEINT WERDEN – für Vater. Wir erleben hier einen grundehrlichen Horst Samson, wie übrigens in allen Gedichten, in denen er Familienmitglieder, besonders Frau Edda und Sohn Elvis, mit einbezieht. Das tut gut. Dichter müssen nicht irgendwo herumschweben. Sie sind unter uns, haben eine Familie, kennen Liebe, Sorgen, Wut und Trauer. Und sie haben Humor, auch sarkastisch angehaucht, schwarz: „so reise ich um die welt im bett / und bin frei / vogelfrei“. (FREIVOGEL IM ABENDLICHT – stephan hermlin zugeeignet). Diese Zueignung Samsons deutet auf die Affinität der (damals) jungen rumäniendeutschen Literaten für die (damalige) DDR-Literatur. Also doch nicht so apolitisch? Übrigens: Stephan Hermlins Vater, David Leder oder Leider, wurde 1888 in Jassy geboren und war bis 1925 rumänischer Staatsbürger.

WAS NOCH BLIEB VON EDOM (1994). Der Dichter ist längst in Deutschland, doch RUMANIA BY NIGHT – für Ludwig Fels und Guntram Vesper ist noch in ihm. Er ist auch älter geworden. Und schon verlangt die Erinnerung an Menschen und Geschehen, wenn auch nur aus zweiter Hand, immer stärker ihr Recht und man sieht sich zu Nachbemerkungen veranlasst, die keine Klärung bringen. (NACHBEMERKUNGEN ZU MEINER GEBURT – meiner Mutter gewidmet).

Oh ja, dann ist es da, das Gedicht aus der Schublade, noch in Temeswar geschrieben, aber erst in Deutschland veröffentlicht. Genial: ZUSAMMENFALTEN DER ZIMMERWÄNDE – für Elvis und Edda. Auswandern. Andere haben Romane darüber geschrieben. Horst Samsons Habseligkeiten teilen sich in „nehmen“ und „lassen“ unter dem Fragezeichen. Total sechs (6) Zeilen.

Erinnerung hin, Erinnerung her. Man ist angekommen. Auch der Lyriker Horst Samson (geb. 1954). Selbst wenn das eine oder andere Gedicht als Entfremdung (REPRODUKTION) wahrgenommen und der Bahnhof (VERSUCH ÜBER DEN ABWESENDEN BAHNHOF) wohl nie seine Symbolkraft für das ewige „Nachfernen“ verlieren wird, bleibt die Hoffnung bestehen, dass der aus dem Banat stammende Dichter uns auch in Zukunft das eine oder andere Gedicht – er soll ja ein Wenigschreiber sein – mit einem Hauch von geistiger Bodenständigkeit schenkt.

Mark Jahr

Karpatenrundschau 9.9. 2010, S. 11

1 Comments on “90. Das Problem mit dem Vergessen (und dem Nichtwissenwollen)

  1. Lieber N.N.,
    neinnein, es gibt absolut keinen Grund, Theo Breuer vor mir in Schutz zu nehmen. Ich weiß sehr wohl, daß er nicht wahllos „alles“ liest. Das kleine Alphabet, das ich zitiere, ist ja doch ein Qualitätssiegel. Ich nenne ihn hier freundlich augenzwinkernd als Bruder im Geiste, denn ähnlich vielseitig und frei von Scheuklappen versteht sich auch die Lyrikzeitung. Jeder Verbündete gegen die sich als Exklusivität gerierende Ignoranz eines Literaturbetriebs, der dekretieren möchte, was „gut“ und beachtenswert ist, obwohl er, obwohl solche Kritiker vieles ausblenden, nicht oder nur oberflächlich zur Kenntnis nehmen und ihr Lob auch nicht selten auf unwürdige Gegenstände ausstreuen. (Ich meine diese und nicht jene). Und auch gegen die nicht seltene, andere Selektivität von Szenen, Klicken, Freundeskreisen, die nichts außer ihrer eigenen Sphäre gelten lassen. Ins Offene heißt doch nicht ins Wahllose.
    Theos Bücher dienen mir oft als erste Quelle zum Nachschlagen. Und um auf Übersehenes aufzumerken. Wo sonst kann man schnell etwas über beispielsweise Heiko Lehmann oder Ni Gudix finden? (Und auch, wenn er mal jemand lobt, den oder die ich nicht so lobenswert finde, halte ich es erst mal für möglich, daß es ist, weil er ihn oder sie besser kennt.)
    Von den aus Rumänien stammenden deutschen Lyrikern stehn im Register von „Aus dem Hinterland“ (2005), wenn ich beim Durchbrausen keinen übersehen habe:
    Klaus Hensel (3), Franz Hodjak (4), Herta Müller (1) Oskar Pastior (10), Carmen Elisabeth Puchianu (1), Horst Samson (1), Werner Söllner (1), Richard Wagner (1), Ernest Wichner (4) – mehr als an anderen Stellen! (In „Kiesel & Kastanie“ 2008 noch Franziska Ricinski, Klaus F. Schneider, Dieter Schlesak und, aus wieder einer anderen Generation, Georg Maurer).
    Nein, gut, daß es Theo Breuer als Mensch und als Institution gibt, und wenn Pommern und Eifel nicht so weit auseinander lägen, wünschte ich, ich könnte von seinen Kentnissen und seiner Bibliothek auch im persönlichen Umgang profitieren.

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