81. Lateinischer Dichter gegen Hitler

Schon als Schüler und später auch als Student hatte sich Weller an lateinischen Gedichten versucht. In Ellwangen aber fand er endlich die Zeit, sich intensiv damit zu beschäftigen. Seit 1915 nahm er fast jedes Jahr am „Certamen Hoeufftianum“ teil, einem lateinischen Dichterwettbewerb in den Niederlanden. 1922 errang er erstmals mit der Goldmedaille den Hauptpreis. Insgesamt 12 Goldmedaillen wurden ihm über die Jahre zugesprochen. (…)

In den letzten Jahren hat besonders Wellers lateinisches Gedicht „Y“ Aufmerksamkeit erregt. Der Text, 1936 entstanden, schildert eine scheinbar amüsante Geschichte: Der Ich-Erzähler, nicht zufällig wie Weller Lateinlehrer, nimmt, nachdem er einen weinseligen Herbstabend im Freundeskreis verbracht hat, vor dem Einschlafen ein lateinisches Gedichtbändchen zur Hand. Plötzlich bemerkt er, wie die Buchstaben aus dem Büchlein purzeln. Und nicht nur das – sie streiten und kämpfen miteinander. Das A als erster Buchstabe des Alphabets übernimmt die Führung, fordert seine Kameraden auf, das Y zu verhaften. Es sei ein ausländischer, ein griechischer Buchstabe und habe im lateinischen Alphabet nichts verloren.

Die scheinbar heitere, phantasievolle Geschichte entpuppt sich, wenn man den historischen Hintergrund in den Blick nimmt, als bittere Fabel auf die Zeitläufe: 1935, ein Jahr vor dem Entstehen des Gedichts, hatten die Nazis die „Nürnberger Rassengesetze“ erlassen, die Verfolgung der deutschen Juden, die man als Fremdlinge und „Volksschädlinge“ ansah, wurde immer offensichtlicher und brutaler. Und wenn in Wellers Gedicht vom „Führer A“, dem Anführer der Buchstaben, die Rede ist, liegt auf der Hand, wer damit gemeint ist. Das A hält eine warnende Rede an sein Buchstabenvolk: „Das Ypsilon“, so mahnt er, „versucht allmählich, die lateinische Sprache zu verfälschen: Männer, es geht hier um unseren Staat und unser Leben! Diese verfluchte Pest ist schon bis tief in die Eingeweide eingedrungen. Ihr solltet nicht sorglos dieses Übel ignorieren!“ Fremdartig sei das Y, es gehöre nicht zu unserer Kultur, eine Seuche sei es, ein Virus, zudem heimtückisch und hinterlistig, weil es sich heimlich in unsere Kultur schleiche. / Michael Spang, Schwäbische Post

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