58. Das unmögliche Epos

Der Leser ist dabei in einem fast schon skandalösen Mass gefordert, das vielsprachige Palimpsest zu entziffern und den verborgenen Zusammenhang der Textfragmente aufzuspüren. Kein Wunder, dass dieses moderne Epos, definiert als «längeres Gedicht unter Einschluss von Geschichte», mit seinem hybriden Anspielungsreichtum inzwischen eine wahre Pound-Industrie alexandrinischer Quellenjäger und Deuter ins Brot gesetzt hat. (Gegen die dabei zutage geförderte Detailflut hilft am besten der Blick in Hugh Kenners grosse und bleibende Synthese «The Pound Era», 1971.)

Die wichtigsten Schlüssel für das Verständnis der scheinbar disparaten Montagepartikel stellen gleich die ersten Cantos bereit: Mythos, Metamorphose und Autobiografie. Der Auftakt erweist sich als verknappte Übertragung von Odysseus‘ Hadesreise bei Homer; angereichert mit Echos der altenglischen Elegie «The Seafarer» und übersetzt nach einer lateinischen Version der Renaissance. Damit projiziert Pound drei epochale Neuanfänge in seinen eigenen modernistischen Aufbruch und thematisiert die «Übersetzung» als Prinzip kultureller Regeneration: Pound als Odysseus, unbehauster Seefahrer und Kulturmittler, der die Schatten der Vergangenheit durch seine Opferblutspende zum Reden bringt. (…)

Gerade in seiner Gänze zeigt es sich: Das grosse Experiment ist weit mehr als ein museales Exponat. Es ist, in seinen Himmel- und Höllenfahrten, seiner synthetischen Kraft und Verstiegenheit, das unmögliche Epos des 20. Jahrhunderts und zugleich ein ungeschminktes Selbstporträt, «warts and all», seines poetischen Odysseus. Die Kohärenz liegt im Fragmentarischen, wo sonst? «It coheres all right / even if my notes do not cohere.» / Werner von Koppenfels, NZZ 16.2.

Ezra Pound: Die Cantos. In der Übersetzung von Eva Hesse und Manfred Pfister. Ediert von Manfred Pfister und Heinz Ickstadt. Kommentiert von Heinz Ickstadt und Eva Hesse. Zweisprachige Ausgabe. Arche-Literatur-Verlag, Zürich – Hamburg 2012. 1480 S., Fr. 166.–.

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