184. Gerd Gaiser

Der thematische Schwerpunkt des Jahresbandes aber ist dem Leben und Werk des Reutlinger Schriftstellers Gerd Gaiser gewidmet, der im Jahr 2008 100 Jahre alt geworden wäre. Gaiser zählte zu den profiliertesten deutschen Autoren der frühen Nachkriegszeit, war aber wegen seiner im Nationalsozialismus veröffentlichten Propaganda-Lyrik (unter anderem: „Reiter am Himmel“) heftig umstritten. Bekannt wurde Gaiser, der als Lehrer am Reutlinger Friedrich-List-Gymnasium und später als Professor an der Pädagogischen Hochschule tätig war, mit seinem 1958 im „Hanser“-Verlag veröffentlichten Roman „Schlussball“. Nachdem Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki Gaisers in der NS-Zeit publizierten national-verklärten Gedichte und Prosatexte in den Mittelpunkt ihrer Kritik rückten und ihm seine schriftstellerischen Fähigkeiten pauschal absprachen, geriet der Schriftsteller rasch wieder in Vergessenheit. „Zum Glück“, wie Reich-Ranicki auch 2001 in einem „Spiegel“-Interview noch sagte.

Zu Unrecht, wie der Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger findet, der anlässlich Gaisers 100. Geburtstags in Reutlingen und in Oberriexingen, dem Geburtsort Gaisers, zwei Festvorträge hielt. Beide („Gerd Gaiser – Erinnerung an die Kindheit“ und „Eine sterbende Welt, die nach Dauer klagte“) wurden nun in die „Reutlinger Geschichtsblätter 2008“ aufgenommen. Ergänzt werden Bausingers Texte durch einen mit Literatur-Auszügen angereicherten Vortrag von Gaisers ehemaligem PH-Kollegen Theodor Karst und einem kurzen Essay des Schweizer Germanisten Bernhard Vögtlin. Wie Bausinger würdigen Karst und Vögtlin Gaisers Werk kritisch. Dies brauche keine Schonung, verdiene es aber, verstanden zu werden, schreibt Vögtlin. Er schließt seine Betrachtungen mit den Worten: „Ohne Gaiser ist eine deutsche Literaturgeschichte nicht zu schreiben.“ / Schwäbische Nachrichten 30.12.

Reutlinger Geschichtsblätter Neue Folge, Nr. 47 (2008). Herausgegeben von Stadtarchiv und Reutlinger Geschichtsverein. 304 Seiten, 123 Abbildungen, davon 48 in Farbe, 24 Euro.

„National-verklärte Gedichte“? Ein paar die schwäbische Heimatforschung ergänzende Bemerkungen sind angebracht. Von „Reichslyrik“ sprach Peter Bekes (Kritisches Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur). Das klingt ein bißchen nach Walter von der Vogelweide & Co. Das „Neue Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur naach 1945“ spricht schon genauer von „Gedichten mit nationalsozialistischer Tendenz“. Franz Lennartz‘ Handbuch „Deutsche Dichter und Schriftsteller unserer Zeit“, 4. Ausgabe 1941 (damals noch „Die Dichter unserer Zeit“), fehlt er – in diesem Jahr erschien Gaisers Erstling, der Gedichtband „Reiter im Himmel“, ja gerade erst – kennt das Buch noch nicht. Es ist Gaisers einziger Gedichtband. Der neurechte Kulturwart Götz Kubitschek, der auch ein ein ausgemachter Lyrikfreund ist und in seiner Kolumne „nationale“ Gedichte von Joachim Fernau, Stefan George, Hölderlin, Benn, Trakl, Enzensberger und anderen vorstellt (in: Sezession im Netz) verleugnet das Buch schlicht, wenn er in seinem Autorenportrait Gerd Gaiser (Sezession 25 · August 2008) wider besseres Wissen behauptet:

Gaiser war also schon vierzig Jahre alt, als er mit Zwischenland debütierte…

Der Erzählungsband „Zwischenland“ erschien 1949 bei Hanser. Natürlich kennt er das Buch von 1941 sehr wohl oder weiß zumindest von seiner Existenz, denn später im gleichen Text schreibt er darüber:

Gaiser selbst war 1933 dem NS-Lehrerbund und 1937 der NSDAP beigetreten, und zwar nicht, weil er sich einen Karrieresprung versprochen hatte, sondern weil er überzeugt davon war, damit die richtige Politik zu unterstützen. Beleg dafür ist der einzige Gedichtband, den Gaiser veröffentlichte: Reiter am Himmel (1941) versammelt expressive Verse, die dem Führer Gefolgschaft und Wehrbereitschaft gegen den Feind aus dem Osten signalisieren. Curt Hohoff hat „Gaisers Reichslyrik“ treffend als ein „von Nietzsche inauguriertes Kokettieren mit der Gewalt“ bezeichnet: „Das Hitlersche Regime konnte von solchen Idealisten für eine Möglichkeit der politischen Erfüllung gehalten werden. Wie schnell verflog sie für Gaiser!“

Wie schnell verflog? In der Tat: 1941 bejubelt er den Führer, im Jahrzehnt darauf verflucht er ihn. Das heißt, er datiert die Verfluchung zurück. In dem Roman „Die sterbende Jagd“ läßt er einen Nazi-Obersten über den größten „ihn“ aller Zeiten so denken:

Ich hasse ihn. Ich hasse ihn wie die Pest.
Gott hat ihn uns geschickt, dachte er, und er muß uns verderben. Ich verstehe das und verstehe es nicht. Aber ich kann nicht austreten und kann es nicht wenden.
Nemo contra Deum nisi Deus ipse.

Dieser Oberst ist Chef einer Staffel der Nazi-Luftwaffe – ein „Reiter am Himmel“, wie der Dichter das poetisch nennt. Expressive Gedichte, sagt Kubitschek. Jedenfalls fehlen die „festen Reime“, die in der Szene als Ausweis nationaler & genialer Lyrik gelten. Kubitschek ist belesener als die Barden und pflegt einen besseren Geschmack, er mag Benn und Trakl, aber „expressiv“? Die Verse plätschern so dahin, nur von Pathos und etwas Bildungskitsch zusammengehalten.

Ich zitiere ausführlich Reinhold Grimm, der den Roman und zwei Gedichte des Bandes genauer ansieht, als es Entschuldiger und Verklärer taten. Hier der vollständige Text von Gaisers Gedicht „Der Führer“ mit Grimms Kritik:

Ich zitiere dieses jämmerliche Machwerk, diesen Hymnus auf den angeblich so Gehaßten, zur Gänze:

Da wir aufbrachen, sahn uns die Alten nach.
Hinter dämmrigen Scheiben
Stießen sie, ihrer Jugend erinnert, sich an.
Ihnen dünkt geringer die unsrige,
Weil wir keine Kränze auf Vorschuß nahmen, weil wir
Gar nicht jubelten,
Und vom Siege nicht redeten.

Wir sparten die Antwort.
Schräg, aus den Augenwinkeln, blickten wir her.
Kein Wort ist uns Siegen,
Sondern Lebens oder Sterbens Entscheid.

Wie denn im Felde
Selten jene die besten Soldaten sind,
Denen nie auf der Zunge der flinke Ausruf stockt,
Die mit eiligen Augen
Ihre flache Wachheit ewig zu Scherzen trägt,
Sondern die Schweigsamen,
Die im Stehen schlafen, wenn keiner sie nötig hat,
In der Not aber kommt in sie keine Müdigkeit.
Keiner sah sie je gähnen, sah sie nach Essen
Fluchen oder um Wasser die Hälse drehen.
Kein Wort kommt über ihre Lippen in der Gefangenschaft,
Schweigend stürben sie, eh sie den Wind verrieten
Oder den gestrigen Schnee. Und
So auch schuf uns die Not.
Wir lernten
Schon als Knaben, daß Hunger nicht ehrlos macht.
Nie kaufte ein üppiger Tisch uns die hohen
Hoffnungen ab.

Wir neiden euch nicht, ihr drüben, eurer Kamine
Schläferndes Warm. Die Wimper eurer
Flachen entzauberten Weiber betört uns nicht.
Leer heißen uns eure Tänze,
Leer euer Lärm.

Die ein Hebräer anführt:
Einer Schlachtsau Leben wird einstmals das eure gelten
Stickig und fett.
Wenn aber wir fallen,
Wird lang unsre Jugend
Wie ein Riff aus dem Meer der Geschlechter ragen,
Da wir dem heerfolgten,
Der, entwachsen dem Sagbaren,
Aller Satzung enthoben
Alles Vergänglichen bar,
Aller Nächster und Fremdester,
Niedergestiegen von drüben,
Unbegreiflich uns vorfocht,
Dem wir gehorchten,
Weil unser höchstes Gebot auch sein Feldzeichen war.[14]

Damit, dergleichen als “ungare Stücke eines namen- und einflußlosen Debütanten” zu bezeichnen, wie Gaiser in einem Gespräch mit Horst Bienek anno 62 unwirsch festzustellen beliebte,[15] ist es wahrlich nicht getan. Hitler, “niedergestiegen” wie ein Gott und “aller [menschlichen] Satzung enthoben”, die von einem “Hebräer” (Roosevelt?) Angeführten, also – sagen wir es doch unverblümt – die Juden durch seine Henker wie Säue, ja Ungeziefer abschlachtend: nein, das war keine harmlos ‘verirrte’ Reichs- oder Kriegslyrik. Gaisers unsägliche “Poesie [schade um den Namen] diente bewußt einer sehr konkreten Politik”.[16]

[14] Gerd Gaiser: Reiter am Himmel: Gedichte. München 1941. S. 57f.; das mir vorliegende
Exemplar trägt den Stempel “Hauptarchiv der NSDAP. Nr. 38,54”.
[15] Vgl. Horst Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. Mit 15 Photos auf
Tafeln. München 1962. S. 220.
[16] So Reich-Ranicki: Deutsche Literatur in West und Ost. S. 56.

Aus:

Gerd Gaisers Reiter am Himmel – Bemerkungen zu seinem Roman Die sterbende Jagd

Author: Grimm, Reinhold

Source: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, SCHULD UND SÜHNE? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945-1961) Internationale Konferenz vom 01.-04.09.1999 in Berlin. HEUKENKAMP, Ursula (Hrsg.) , pp. 21-33(13)

Literatur

Walter Jens: Gegen die Überschätzung Gerd Gaisers: Nicht alles, was zur
Klampfe gesungen wird, ist Dichtung. In: Die Zeit vom 25.11.1960; auch in: Hans
Mayer (Hrsg.): Deutsche Literaturkritik der Gegenwart. Frankfurt a.M. 1983. Bd. 4:
S. 74-81.

Marcel Reich-Ranicki: Deutsche Literatur in West und Ost: Prosa seit 1945. München
1963. S. 55-80 (erstmals in Der Monat vom selben Jahr)

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