„Wir müssen uns ändern“

Immer mal wieder. 1948 klang das so.

Dagmar Nick 

(* 30. Mai 1926 in Breslau)

Wir sind für alles Leise taub geworden, 
für alles Zarte blind, durch so viel Tod, 
selbst vor dem Elend fühllos, so verroht
    durch maßloses Morden.

Wir hören nicht die Toten unter Stiegen 
zerfallner Häuser, wie sie warnen, drohn.
Wir wuchern mit der Welt und reden schon
    von kommenden Kriegen.

Das ist wie eine Seuche in den Ländern: 
die Ungeduld, das Neiden, Hassen, Schrein.
Wir sollten einmal nur nachdenklich sein.
    Wir müssen uns ändern.

So stand es am 25.7.1948 in der Berliner Zeitschrift Ulenspiegel. Nachgedruckt in: ULENSPIEGEL. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Satire, 1945-1950. Ausgewählt und herausgegeben von Herbert Sandberg und Günter Kunert. Eulenspiegel Verlag (Ost-)Berlin, 1978, S. 166.

Fieberkollekte

Frank Milautzcki

Abriebbuchenecke

                           »! Kundmachung! Meine Frau ist gestern von einem frechen Lümmel.«
                           Kurt Schwitters

Fieberkollekte ist einfach wie son Mahlzermulmen.
Heilig und gralig, das Falten der Serviererinnen
Zum Rittermal spielt auf die Hosenrostvertrage und klimpert 
Schlotter an die Weltauskunft. Wie man Manegen 
bekocht mit Ochsen, zeigt das Holz aus dem Bandagenkutter 
im Rund der Hutze. Wenn spät die Butter kugelt und in Rosen 
achert, brachlegt, blättre auf die Fragen an den blassen Hans, 
wie es auch geht und fördersteif beblumt am Wegespiel,
der Wohnenden fürs Klingeln einer Katze alle Plans abdreht, 
wenn später Pforte sich bemustern und ein Herz wem Wehr 
und Zache bliest, verschenkte Hosen, Rippenlyrik dürr und puck, 
als verschiede sich der Abt im Grunzen, wo die Achse dünne 
und hammellappig Zwergrot auf den Kranz der Tritte trieb.
Tagdiebducke machen Blätze, heulen sich in Ragesbeule, 
schnell den Speicheltrief der Zunge übern Rücken runterhecheln 
und dann Backen fassen, baß befasert wie ein Fußraum, 
den man nicht besucht im stummen Funken wegen Kümmel.

Aus: Frank Milautzcki: verzargen. ein hölzernes alphabet. gedichte cut-ups textcollagen. Frankfurt/Main: gutleut, 2022, S. 92

Nachtrag

WordPress hat seit einiger Zeit einen AI-Assistenten, mit dem man seinen „Beitrag vor dem Veröffentlichen auf Fehler [untersuchen] und den Tonfall [überprüfen]“ kann. Diese AI/KI hat einen Horror vor dem Unverständlichen und Ungereimten. Oft macht sie mir Vorschläge, wie ich den Beitrag verbessern kann – meist empfiehlt sie, mehr Hintergrundinformationen über den Autor und den Text zu liefern oder wenigstens die verwendeten Stilmittel zu analysieren. Manchmal empfiehlt sie auch, den Text des Gedichts zu überarbeiten, zum Beispiel es in Strophen einzuteilen und zu reimen, damit es der Leser besser verstehen kann. Zum heutigen Text sagt sie:

The content seems to be a poem written by Frank Milautzcki. It appears to be written in a highly creative and abstract style. However, it may be helpful to include some context or explanation to help readers understand the meaning behind the words. Additionally, formatting the poem into stanzas or verses could make it easier to read and follow.

KI

Übrigens, in dem Buch von Milautzcki steht schon die Antwort:

DER SINN IST NIE
VERBORGEN – NUR DER BLICK
BORGT SICH
AN FALSCHEN STELLEN
SEIN ALPHABET UND SUCHT
NACH CHROMJUWELEN

a.a.O. S. 5

(Tja, KI ist auch nur ein Mensch)

She walks in beauty

George Byron

(* 22. Januar 1788 in London; † 19. April 1824 in Messolongi, Griechenland)

She Walks in Beauty

                 I
She walks in beauty, like the night 
Of cloudless climes and starry skies; 
And all that’s best of dark and bright 
Meet in her aspect and her eyes; 
Thus mellowed to that tender light 
Which heaven to gaudy day denies. 

                 II
One shade the more, one ray the less, 
Had half impaired the nameless grace 
Which waves in every raven tress, 
Or softly lightens o’er her face; 
Where thoughts serenely sweet express, 
How pure, how dear their dwelling-place. 

                 III
And on that cheek, and o’er that brow, 
So soft, so calm, yet eloquent, 
The smiles that win, the tints that glow, 
But tell of days in goodness spent, 
A mind at peace with all below, 
A heart whose love is innocent!
Sie kommt schön wie die Sternennacht

                 I
Sie kommt schön wie die Sternennacht 
Am wolkenlosen Firmament.
Des Leuchtens und des Dunkels Pracht 
Geeint in ihren Augen brennt, 
Verklärt vom Glanz, der mild erwacht 
Und den der grelle Tag nicht kennt.

                 II
Denn tiefrer Schatten, größres Licht, 
Sie müßten feind der Anmut sein, 
Die leuchtend schönt ihr Angesicht 
Und ihrer Locken schwarzen Schrein.
Wo jeglicher Gedanke spricht:
Dies Heim, wie lieblich ists, wie rein.

                 III
Was über Wang und Braue geht, 
Das Lächeln und der Farben Glut 
Bezeugen sacht und doch beredt:
Unschuld hieß aller Tage Gut, 
In Frieden mit der Erde steht 
Dies Herz, in dem die Liebe ruht

Aus dem Englischen von Uwe Grüning, aus: Ein Ding von Schönheit ist ein Glück auf immer. Gedichte der englischen und schottischen Romantik. Englisch und deutsch. Hrsg. Horst Höhne. Leipzig: Philipp Reclam, 1980, S. 305

Katalanische Auszeichnung

Die Ramon-Llull-Stiftung (FRL) hat in Andorra die Internationalen Ramon-Llull-Preise vergeben, mit denen Personen und Institutionen außerhalb des katalanischen Sprachraums auszuzeichnen, die sich um die Förderung der katalanischen Sprache und Kultur auf internationaler Ebene verdient gemacht haben. Den Vorsitz der Preisverleihung führten die andorranische Ministerin für Kultur, Jugend und Sport Mònica Bonell und die Kulturministerin der Regionalregierung von Katalonien Natàlia Garriga.

Mit den von der Ramon-Llull-Stiftung verliehenen Preisen wird die Arbeit von Personen außerhalb des katalanischen Sprachbereichs gewürdigt, die auf internationaler Ebene zur Förderung der katalanischen Sprache und Kultur beigetragen haben. Preisträger dieser elften Ausgabe waren der Ungar József Kardos, der Deutsch-Katalane Àxel Sanjosé, die Russin Nina Avrova und der Engländer Dominic Keown.

Die Preisverleihung fand am Montag im Auditori Nacional von Andorra in Ordino statt. Den Vorsitz führte die Ministerin für Kultur, Jugend und Sport Mònica Bonell, in Begleitung der Kulturministerin der Regionalregierung von Katalonien Natàlia Garriga, der Direktorin der Ramon-Llull-Stiftung Teresa Colom und des Direktors des Ramon-Llull-Instituts Pere Almeda.

Der Ramon-Llull-Preis für Literaturübersetzungen wird von der Ramon-Llull-Stiftung verliehen. Er würdigt die beste Übersetzung eines literarischen Werks aus dem Katalanischen, die im Jahr vor der Preisverleihung veröffentlicht wurde. In die Auswahl kommen literarische Werke, die von einem Übersetzer aus dem Katalanischen übersetzt und im Jahr vor der Preisvergabe veröffentlicht wurden. Die Auszeichnung ist mit 4000 Euro dotiert.

Die Jury sprach den Preis Àxel Sanjosé zu für seine Übersetzung von Gedichten von Joan Maragall ins Deutsche. Die von dem Übersetzer selbst zusammengestellte Auswahl ist unter dem Titel Der Pinien Grün, des Meeres Blau / La verdor dels pins, la blavor del mar erschienen. Die von der Stiftung Lyrik Kabinett herausgegebene Übersetzung hat von den externen Gutachtern sehr positive Kommentare erhalten.

Die Jury hob hervor, dass es dem Übersetzer ausgezeichnet gelungen sei, die Stimme des Dichters zu übertragen. Die Anthologie ist bei einem führenden deutschen Lyrik-Verlag erschienen. Der sorgfältig editierte zweisprachige Gedichtband erläutert auch die philologischen Kriterien, nach denen der Übersetzer seine Entscheidungen getroffen hat. / https://www.llull.cat/deutsch/actualitat/actualitat_noticies_detall.cfm?id=43699&url=dominic-keown-nina-avrova-axel-sanjose-und-jozsef-kardos-wurden-mit-dem-internationalen-ramon-llull-preis-ausgezeichnet.htm

Herzliche Glückwünsche an die Preisträger und speziell an den uns verbundenen Autor und Übersetzer Àxel Sanjosé! Zum Anlass ein Gedicht aus dem ausgezeichneten Band.

Joan Maragall

(10. Oktober 1860 in Barcelona; † 20. Dezember 1911 ebendort)

Die erblindete Kuh

Den Kopf an diesen, jenen Baumstamm stoßend,
aus altem Trieb auf ihrem Weg zum Wasser
kommt eine Kuh, allein. Das Tier ist blind.
Mit einem allzu gut geworfnen Stein
leerte ein Junge einst ihr Aug. Das andre
trübt nun ein Schleier ein. Die Kuh ist blind.
Zur Tränke kommt sie ebenso wie früher,
doch nicht mehr mit dem sichren Schritt von damals
noch mit der Herde: Nein, sie kommt allein.
Auf stillen Wiesen und an Baches Ufer,
auf Felsen, Hügeln lassen ihre Glocken
erklingen die Gefährtinnen und weiden
aufs Geratewohl … Sie würde stürzen.
Das Maul stößt unsanft an die harte Tränke,
sie setzt verletzt zurück … kehrt jedoch wieder
und neigt den Kopf zum Wasser, trinkt gemächlich.
Nur wenig trinkt sie, ohne Durst… Dann hebt sie
ihren gehörnten Kopf zum weiten Himmel
mit tragisch großer Geste, regt die Lider
über den toten Pupillen und geht dann,
an Licht verwaist unter sengender Sonne,
geht zögernd auf den unvergessnen Pfaden,
bewegt den Schwanz nur träge hin und her.

Aus dem Katalanischen von Àxel Sanjosé, aus: Joan Maragall, Der Pinien Grün, des Meeres Blau. Gedichte. Katalanisch/deutsch. Ausgewählt, übertragen und mit einer Einführung von Àxel Sanjosé. München: Stiftung Lyrik Kabinett, 2022, S. 36f.

La vaca cega
 
Topant de cap en una i altra soca, 
avançant d’esma pel camí de l’aigua, 
se’n ve la vaca tota sola. És cega. 
D’un cop de roc llançat amb massa traça, 
el vailet va buidar-li un ull, i en l’altre 
se li ha posat un tel. La vaca és cega. 
Ve a abeurar-se a la font com ans solia, 
mes no amb el ferm posat d’altres vegades 
ni amb ses companyes, no: ve tota sola. 
Ses companyes, pels cingles, per les comes, 
pel silenci dels prats i en la ribera, 
fan dringar l’esquellot mentres pasturen 
l’herba fresca a l’atzar… Ella cauria. 
Topa de morro en l’esmolada pica 
i recula afrontada… Però torna 
i abaixa el cap a l’aigua i beu calmosa. 
Beu poc, sens gaire set… Després aixeca 
al cel, enorme, l’embanyada testa 
amb un gran gesto tràgic; parpelleja 
damunt les mortes nines, i se’n torna 
orfe de llum sota del sol que crema, 
vacil·lant pels camins inoblidables, 
brandant lànguidament la llarga cua. 

Versverderber

Georg List

(latinisiert Georg Lysthenius; * 29. Juli 1532 in Naumburg; † 27. Februar 1596 in Dresden)

AUF DIE LIEDERLICHEN VERSVERDERBER

Ihr ungestimmten Flöten 
Verhungerter Poeten, 
Pfeift für ein Maß verdorbnes Bier 
Der Welt verwegne Possen für!
Geht ungefähr dem Dorf ein Richter ab, 
Wie foltert ihr den Kopf durch tiefes Sinnen 
Und seid bemüht bei dessen Grab 
Durch einen Reim ein Taglohn zu gewinnen.
Für kleines Geld verkauft man große Lügen, 
Die Stein und Eisen überwiegen.
Schlaf aus, du träumender Poet!
Suchst du die Toten aufzuwecken, 
So mußt du selbst nach Geist und Leben schmecken!

Aus: Deutsche Gedichte. Von Walther von der Vogelweide bis Gottfried Benn. Hg. Hans Joachim Hoof (Serie Piper). München: Piper, 3. Auf., 2008, S. 25

In Seiner Richtung

Bess Brenck-Kalischer

(* 21. November 1878 in Rostock; † 2. Juni 1933 in Berlin)

In Seiner Richtung

In Seiner Richtung lag mein Geist.
Zu solcher Schau ward keiner noch geladen, 
Der Bogen meiner Sehnsucht war ganz starr.

                 ________

Der Pfeil entschwand, 
Die Sehne zittert wieder.
Nur einen Augenblick zum Atemholen, 
Dann auf, ihr Schlangen, 
Kampf und wieder Kampf.

Aus: Versensporn 3. Bess Brenck-Kalischer. Jena: Edition Poesie schmeckt gut, 2011, S. 25

Geboren am 21. November 1878 in Rostock als Betty Levy, Besuch der höheren Mädchenschule, dann eines Lehrerinnensemmars. Einige Semester philosophisches Studium, gleicizeitig sprachtechnische Ausbildung, Beteiligung an Theateraufführungen der literarischen Abteilung der Berliner „Freien Studentenschaft“ (spielt z. B. 1908 anlässlich der Waldspiele der Neuen Gemeinschaft in Friedrichshagen unter der Regie von Ludwig Rubiner in dem Stück Hirtenliebe Eine biblische Scene von Peter Hille). 1905 erste Gedichte in der Zeitschrift Charon. 1906 Heirat mit dem Schriftsteller Siegmund Kalischer, Geburt der Tochter Rut. Nach dem frühen Tod ihres Mannes (1911) Unterhaltserwerb mit Vortragsabenden in Berlin, Frankfurt a. M., Mainz, Dresden. Ab 1913 verstärkt schriftstellerisch tätig. Veröffentlichungen in den Zeitschriften Neue Jugend, Die Schöne Ranität, Menschen, Der Einzige, Sozialistische Monatshefte. Etwa seit Ende 1917 wohnhaft in Dresden-Hellerau. Mitbegründerin der „Expressionistischen Arbeitsgemeinschaft Dresden“. Anfang 1918 schwere Erkrankung an Blutvergiftung. Spätestens ab 1920 wieder in Berlin. Soll mit Berta Lask einen „Verband proletarischer Schriftsteller“ gegründet haben. Mitte August 1926 Nervenlähmung der rechten Hand und körperlicher Zusammenbruch. Große materielle und gesundheitliche Not. August 1927 Reise mit einem Transport der Internationalen Arbeiterhilfe in ein Heilbad nach Südrussland, anschließend Aufenthalt in Moskau, wo sie unmittelbaren Einblick in die Arbeitsweise des Theaterregisseurs Wsewolod Meyerhold gewinnt. Von dort zurückgekehrt, widmet sie sich verstärkt dem Theater und verfasst Kritiken z. B. für die Blätter Die Scene und Die schaffende Frau. Stirbt am 2. Juli 1933 in Birkenwerder.

(Aus dem Versenspornheft)

Ode auf Thomas Chatterton

Heute vor 271 Jahren wurde Thomas Chatterton (* 20. November 1752 in Bristol; † 25. August 1770 in London) geboren. Obwohl er nicht einmal 18 Jahre alt wurde, hinterließ er ein erstaunliches Werk. Hier aus einem alten Lexikon.

Chatterton (Tchättertn) Thomas, geb. 1752 zu Bristol, Sohn eines Dorfküsters, gab als Jüngling vorgeblich alte Gedichte heraus, die er selbst gedichtet hatte; er betrog damit den Minister Horace-Walpole und verlor dessen Schutz, als er die Täuschung erfuhr. Nun ging C. zur Oppositionspresse über, verfaßte politische satirische Gedichte und hätte seine Feder gerne den Meistbietenden verkauft; dies gelang jedoch nicht, C. gerieth in die peinlichste Noth und vergiftete sich 1770 halb verhungert. Seine Gedichte zeichnen sich durch Einfachheit und Kraft aus und bei anderem Charakter und Schicksale wäre C. einer der großen engl. Dichter geworden.

Quelle: Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 2, S. 71-72. Permalink:http://www.zeno.org/nid/20003268071

Mehr davon im Lyrikwiki https://lyrikwiki.de/mediawiki/index.php/Chatterton,_Thomas

Im 20. Jahrhundert widmete Johannes Bobrowski dem Dichter eine sapphische Ode. Sie wirkt auf den ersten Blick vielleicht kompliziert mit den verschachtelten Satzgefügen, zahlreichen Einschüben sowie Zeilensprüngen zwischen den Versen und Strophen, aber wenn man ein bisschen übt und streng an jedem Zeilenende eine (kleinere oder größere) Pause macht, merkt man eine nachhaltige (nachhallende) rhythmische Spannung. (Wer die Form nicht gewöhnt ist, könnte zu einer kleinen Übung greifen und hintereinander die letzte Zeile aller Strophen lesen, zum Reinhören.) Mir macht das heute noch genausoviel Spaß wie beim ersten Lesen vor Jahrzehnten, seufz.

Johannes Bobrowski

ODE AUF THOMAS CHATTERTON

Mary Redcliff, rot, ein Gebirge, unter 
deinen Türmen, unter der Simse Wirrung 
und den Wänden, steilem Geschneid der Bögen, 
träufend von Schatten ...

aufwuchs hier das Kind, mit dem Wort allein wie 
mit den Händen, ratlos; ein Nächtewandler 
oft: der stand auf hangender Brüstung, schaute 
blind auf die Stadt hin,

schwer vom Monde, wo sich ein Gräber mühte 
seufzend im Gelände der Toten –, rief die 
hingesunkne Zeit mit verblichnen Namen.
Ach, sie erwachte

nie doch, da er ging, in der Freunde Stimmen 
Welt zu finden, in seiner Mädchen sanfter 
Schläfenschmiegung, da er in schmalen Stuben 
lehnte das Haupt hin.

Nie mehr nahte, da er es rief, das Alte.
Nur der Zweifel, einziges Echo, flog im 
Stiegenknarren stäubend, im Klang der Turmuhr 
eulenweich auf nur.

Hinzusprechen: daß er verging so, seine 
dämmervollen Lieder – Wir zerren immer, 
täglich ein Undenkliches her, doch was wir 
hatten der Zeit an,

immer gilt's ein Weniges, das Geringste, 
den und jenen rührend: dann einmal ist's ein 
Baum, ergrünt, ein zweigendes, tausendfaches, 
rauschendes Laubdach;

Schatten wohnt darunter –, der schattet nicht die 
schmale Spur Verzweiflung: dahingefahren, 
falber Blitz, wo kaum ein Gewölk stand, in die 
Bläue gekräuselt,

über jener Stadt, die in Ängsten hinfuhr, 
Bristol, da der Knabe gesungen, draußen 
an dem Avon, wo ihn der Wiesentau noch, 
endlos noch kannte.

Ach, die Eulenschwingen der Kindheit über 
seinen Schritten, da er in fremden Straßen, 
bei der Brücke fand unter wind'gem Dach ein 
jähes Umarmen

und den Tod; der kam wie ein Teetrunk bläßlich, 
stand am Tisch, in raschelnde Blätter legend, 
auf die Schrift den knöchernen Finger, «Rowley» 
las er, «Aella».

Das Gedicht entstand am 9.4.1955, es erschien in Bobrowskis zweitem Gedichtband, Schattenland Ströme (1962/63). Aus: Johannes Bobrowski, Die Gedichte (Gesammelte Werke Bd. I). Berlin: Union Verlag, 1987, S. 103.

Aktstudie

José Saramago 

(* 16. November 1922 in Azinhaga, Portugal; † 18. Juni 2010 in Tías auf Lanzarote)

Aktstudie

Diese Linie, die von deinen Schultern ausgeht, 
Die sich fortsetzt im Arm, dann in der Hand, 
Diese sich treffenden Zwillingskreise, 
Deren Mitte sich zu Kegeln formt, 
Welche spitz erhoben den Lippen zustreben, 
Die sich verlangend von den deinen lösten.

Diese zwei sich in der Wellenbiegung 
Der Taille verjüngenden Parabeln, 
Die kallipygischen Rundungen, die das Risiko 
Verdrehter Wirbelsäulen überlagern:
Warme Schenkel mit verlockenden Linien, 
Spirale, die sich ohne Ende dreht.

Dieses Nichts einer Kurve, die auf deinem Leib 
Einen ruhenden Bogen zeichnet, 
Dieses Dreieck aus schimmernder Dunkelheit, 
Weg und Siegel der Tür zu deinem Körper, 
Wo sich die Aktstudie, die ich erstelle, 
Nun in ein fertiges Bild verwandelt.

Deutsch von Niki Graça, aus: José Saramago, Über die Liebe und das Meer. Gedichte. Aus dem Portugiesischen von Niki Graça. Hamburg: Hoffmann & Campe, 2011, S. 29

Niemand verlässt sein Zuhause, es sei denn

Warsan Shire (Somali Warsan Shireh, arabisch ورسان شرى), somalisch-britische Autorin, geboren am 1. August 1988 in Kenia von somalischen Eltern, mit denen sie im Alter von 1 Jahr nach Großbritannien kam.

Aus: Zuhause

I

Niemand verlässt sein Zuhause, es sei denn Zuhause ist das Maul eines Haifischs. Du rennst nur Richtung Grenze, wenn du die ganze Stadt rennen siehst. Der Junge, mit dem du zur Schule gingst, der dich hinter der alten Dosenfabrik schwindelig geküsst hat, hält ein Gewehr in der Hand, das größer ist als er selbst. Du verlässt dein Zuhause nur, wenn Zuhause dich nicht bleiben lässt.

Niemand würde sein Zuhause verlassen, es sei denn Zuhause jagt dich davon. Du hast nie daran gedacht, es zu tun, als du es dennoch tust, trägst du die Hymne in deinen Atemzügen, und wartest bis zur Flughafentoilette, um den Pass zu zerreißen und hinunter zu schlucken, und jeder traurige Bissen macht dir bewusst, dass du nicht zurückkehren wirst.

Niemand setzt seine Kinder in ein Boot, es sei denn das Wasser ist sicherer als das Land. Niemand würde freiwillig Tage und Nächte im Bauch eines Lastwagens verbringen, es sei denn die zurückgelegten Meilen bedeuten mehr als nur eine Reise.

(…)

II

Ich weiß nicht, wohin ich gehe. Wo ich herkomme, verschwindet. Ich bin nicht willkommen. Meine Schönheit ist hier keine Schönheit. Mein Körper brennt vor Scham, nicht dazuzugehören, mein Körper sehnt sich. Ich bin die Sünde der Erinnerung und die Abwesenheit von Erinnerung. Ich schaue die Nachrichten und mein Mund wird ein Waschbecken voll Blut. Die Warteschlangen, Formulare, Menschen hinter Schreibtischen, Telefonkarten, Einwanderungsbeamten, die Blicke auf den Straßen, die Kälte, die sich tief in meinen Knochen festsetzt, die Englischkurse am Abend, die Entfernung von zu Hause. Alhamdulillah*, all das ist besser als der Geruch einer lodernd brennenden Frau, einer Wagenladung voller Männer, die wie mein Vater aussehen – und mir die Zähne und Nägel ausreißen. All diese Männer zwischen meinen Beinen, ein Gewehr, ein Versprechen, eine Lüge, sein Name, seine Flagge, seine Sprache, sein Geschlecht in meinem Mund.

* ) Lob sei Gott

Aus dem Englischen von Mirjam Nuenning, aus: Warsan Shire: Haus Feuer Körper. Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe Englisch-Deutsch. Aus dem Englischen von Muna AnNisa Aikins, Mirjam Nuenning und Hans Jürgen Balmes. Mit einem Nachwort von Sharon Dodua Otoo. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2022, S. 22ff

HOME

I

No one leaves home unless home is the mouth of a shark. You only run for the border when you see the whole city running as well. The boy you went to school with, who kissed you dizzy behind the old tin factory, is holding a gun bigger than his body. You only leave home when home wont let you stay.

No one would leave home unless home chased you. Its not something you ever thought about doing, so when you did, you carried the anthem under your breath, waiting until the airport toilet to tear up the passport and swallow, each moumful mouthful making it clear you would not be going back.

No one puts their children in a boat, unless the water is safer than the land. No one would choose days and nights in the stomach of a truck, unless the miles travelled meant something more than joumey.

(…)

II

I don’t know where I’m going. Where I came from is disappearing. I am unwelcome. My beauty is not beauty here. My body is burning with the shame of not belonging, my body is longing. I am the sin of memory and the absence of memory. I watch the news and my mouth becomes a sink full of blood. The lines, forms, people at the desks, calling cards, immigration officers, the looks on the Street, the cold settling deep into my bones, the English classes at night, the distance I am from home. Alhamdulillah, all of this is better than the scent of a woman completely on fire, a truckload of men who look like my father—pulling out my teeth and nails. All these men between my legs, a gun, a promise, a lie, his name, his flag, his language, his manhood in my mouth.

Die Feder kritzelt

Friedrich Nietzsche 

(* 15. Oktober 1844 in Röcken; † 25. August 1900 in Weimar) 

Die Feder kritzelt: Hölle das!
Bin ich verdammt zum Kritzeln-Müssen? –
So greif ich kühn zum Tintenfaß
Und schreib mit dicken Tintenflüssen.
Wie läuft das hin, so voll, so breit!
Wie glückt mir alles, wie ich's treibe!
Zwar fehlt der Schrift die Deutlichkeit –
Was tut's? Wer liest denn, was ich schreibe?

Aus: Friedrich Nietzsche, Gedichte. Mit einem Nachwort herausgegeben von Jost Hermand. Stuttgart: Reclam, 1964, S. 63

Unbequemer Zeuge

Grzegorz Wróblewski

HERRN CULLENS GESCHICHTE

Herr Cullen aus Texas, USA, hat einen Baum ermordet.
Er goss vier Liter starkes Gift auf eine historische Eiche in Austin,
unter der 1836 Weiße den Roten die Hand schüttelten. Paul Cullen 
wird 9 lange Jahre im Gefängnis verbringen, aber seine Arbeit ist erledigt,
er hat es hervorragend gemacht: Er hat den letzten, unbequemen Zeugen getötet!

Übersetzung aus dem Polnischen vom Autor

WYPAD PANA CULLENA

Pan Cullen ze stanu Texas w USA zamordował drzewo.
Wylał cztery litry silnej trucizny na historyczny dąb z Austin,
pod którym w 1836 roku biali podali rękę czerwonym.
Paul Cullen spędzi w więzieniu 9 długich lat, ale swoje zadanie
wykonał na medal: zabił ostatniego, niewygodnego świadka!

Grzegorz Wróblewski wurde 1962 in Danzig, Polen, geboren. Seit 1985 lebt er in Kopenhagen, Dänemark. Er ist Schriftsteller (Lyrik/Prosa/Essays/Dramen) und bildender Künstler. Er veröffentlichte viele Bücher in Polen. Seine Werke wurden in Dutzende Sprachen übersetzt. Auf Deutsch wurden seine Gedichte in den Anthologien „ZWISCHEN DEN LINIEN. Eine polnische Anthologie“ (Postskriptum Verlag, Hannover 1996) und in der Anthologie „Polnische Poesie nach der Wende – Generation ’89“ (Hamburg 2008) präsentiert. 2007 wurden die Gemälde von Grzegorz Wróblewski auf der deutschen Gemeinschaftsausstellung „NORD ART“ präsentiert.

Reisig

Sasha Petruk

Volkslied

Reisig warst du 
ich sah dich im Sand

Die Reiter der Steppen 
sprengten darob

Die Himmel der Erden 
hielten sich ob

Ein Blau war ein Blau 
war ein Blau wie der Wind

Wie Reisig mein Kind 
wir immer noch sind

Aus: Sasha Petruk, Abecedarium eines verlorenen Alphabets. Dortmund edition offenes feld, 2023, S. 65

Sasha Petruk, geboren 1967 in Brody, studierte Germanistik und Polonistik in Lwiw und Szczecin. Sie lebt heute in Berlin. Verschiedene Einzelveröffentlichungen in Zeitschriften und im Internet. Das »Abecedarium« ist ihr Debütband.

Der setzt die Maske auf. Der setzt sie ab.

Peter Härtling 

(* 13. November 1933 in Chemnitz; † 10. Juli 2017 in Rüsselsheim am Main)

ZWEI TRAUMFIGUREN

Der setzt die Maske auf. Der setzt sie ab.
Der spricht, wenn andre schweigen.
Der wohnt in alten Geigen.
Der gräbt sich selbst sein Grab.

Der flüstert sich zwei Augen hin.
Der einen Berg, den keiner zwingt.
Der streicht sich Silber an das Kinn, 
das (wenn ers schlägt) wie Zymbeln klingt.

Es könnte sein, wenn du nach ihnen fragst –
sie sind nicht da, sie werden es nicht sein:
Der eine wechselte das Sein mit Schein, 
der andre starb an Dingen, die du sagst.

Aus: Peter Härtling, Ausgewählte Gedichte 1953-1979. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand, 1979. 6. Aufl. 1985, S. 43f

Lektion für Baby

Gertrude Stein 

(* 3. Februar 1874 in Allegheny West in Pittsburgh, Pennsylvania; † 27. Juli 1946 in Neuilly-sur-Seine bei Paris)

A Lesson For Baby

What is milk. Milk is a mouth. What is a mouth.
Sweet. What is sweet. Baby.
A lesson for baby.
What is a mixture. Good all the time 
Who is good all the time. I wonder.
A lesson for baby.
What is a melon. A little round.
Who is a little round. Baby.
Mundartliche Fassung von Ernst Jandl

soxn baby

wos is a müch. a müch is a mund. wos is a mund. 
siass. wos is siass. s baby.
soxn baby.
wos is a gmisch. imma guat 
wer 's imma guat. ka r aunung.
soxn baby.
wos is a melone. wos runz. 
wer is wos runz. s baby.

soxn: sag es dem
Fassung von Norbert Hummelt

Lektion für Knilch

Was ist Milch. Die Milch ist ein Mund. Was ist Mund.
Süß. Was ist süß. Knilch.
Lektion für Knilch.
Was für Gemüs. Allzeit gesund 
Wer ist allzeit gesund. Ich frage Milch.
Lektion für Knilch.
Was ist Melone. Bißchen rund.
Wer bißchen rund. Knilch.

Aus: Gertrude Stein, Spinnwebzeit. Bee Time Vine und andere Gedichte. Hrsg. Marcel Beyer, Barbara Heine und Andreas Kramer. Zürich: Arche, 1993, S. 54, 55, 57.

Umfangreiche Bibliografie in Lyrikwiki

Das mit dem Darwin

Wilhelm Busch 

(* 14. April 1832 in Wiedensahl; † 9. Januar 1908 in Mechtshausen) 

Sie stritten sich beim Wein herum, 
Was das nun wieder wäre;
Das mit dem Darwin wär gar zu dumm 
Und wider die menschliche Ehre.

Sie tranken manchen Humpen aus, 
Sie stolperten aus den Türen, 
Sie grunzten vernehmlich und kamen zu Haus
Gekrochen auf allen vieren.

Aus: Die komischen Deutschen. 881 gewitzte Gedichte aus 400 Jahren. Ausgewählt von Steffen Jacobs. Frankfurt/Main: Gerd Haffmanns bei Zweitausendeins, 2004, S. 759