Der Dichter Uwe Greßmann wurde manchmal ein naiver Dichter genannt, aber das war er nicht. Er, der nicht studieren konnte, hat autodidaktisch die Literaturgeschichte und Philosophie studiert. Seine Gedichte und Briefe legen Zeugnis ab.
Heute ein Gedicht, das er kurz vor seinem Tod schrieb und das damals im kleinen Land DDR nicht publizierbar war. Erst 1982 gelang es Richard Pietraß, es als Kassiber im Anhang einer Auswahlausgabe des schon 1969 gestorbenen Dichters herauszuschmuggeln. Die Freude der aufmerksamen Leser war diebisch. Das Buch erschien in hoher Auflage als Reclam-Taschenbuch zum Preis von 3,50 Ostmark. Greßmann hatte das Gedicht dem tschechischen Lyriker und Übersetzer Ludvík Kundera in einem Brief geschickt. Kundera hat das Augenzwinkern des Dichters sicher genauso goutiert wie wir 13 Jahre später.
Wenige zeitgeschichtliche Anmerkungen voraus. Das Gedicht spricht vom Minnesänger Walther von der Vogelweide und zitiert den mittelalterlichen Sängerkrieg auf der Wartburg: „Herr Walther spricht“. Natürlich wusste jeder, dass es im Mittelalter keine Faustaufführung gab. In der DDR dagegen sehr wohl – die Kulturpolitik hatte zwei gegensätzliche Tendenzen. Eine war die Orientierung an der klassischen deutschen Literatur. Partei- und Staatschef Walter Ulbricht hatte den Faust im Arbeiterbildungsverein studiert – es ging darum, dass die Arbeiter die „Höhen der Kultur“ erstürmen sollten. Ulbricht lernte die Lektion, hielt die Klassik hoch und forderte die jungen Schriftsteller auf, einen dritten Teil des Faust zu schreiben. Der sollte zeigen, wie die DDR die Ideale der deutschen Klassik verwirklichte. Was sie erdichtet und erträumt, wird in der sozialistischen DDR Wirklichkeit, „mit freiem Volk auf freiem Grunde“. Mehrere junge Schriftsteller, darunter Volker Braun und Uwe Greßmann, machten sich sogleich daran. Die Ergebnisse waren nicht so, dass sie damals in der DDR druckbar gewesen wären. – Die andere, gegenläufige Tendenz seit den 60er Jahren bestand darin, die Schranken zwischen den Arbeitern und Bauern und der hohen Kultur einzureißen. Die Arbeiter sollten Bücher lesen und ins Theater gehen und auch selber schreiben und malen. Auf der zentralen Deutschen Kunstausstellung der DDR 1967 wurden auf Geheiß des Staatschefs Arbeiten von Laienkünstlern neben denen der Berufskünstler ausgestellt. Die Künstler und Schriftsteller ihrerseits sollten in die Betriebe gehen und das „echte Leben“ in der sozialistischen Produktion kennenlernen. „Bitterfelder Weg“ hieß das (es kommt im Gedicht vor). – Und dann die Faustaufführung. Als im Herbst 1968 am Deutschen Theater Wolfgang Heinz und Adolf Dresen Goethes „Faust“ inszenierten, saß Ulbricht in seiner Loge. Die Aufführung gefiel ihm aber nicht. So hatte er sich den sozialistischen „Faust“ nicht vorgestellt. Wütend verließ er die Loge. Die Aufführung wurde abgesetzt. „Diesen Faust, den mag ich nicht.“ – Eduard von Winterstein: berühmter Film- und Theaterschauspieler (1871-1961), von der DDR-Führung hochdekorierter Schauspieler am Deutschen Theater in Ostberlin (er erhielt die Nationalpreise von der III. bis hoch zur I. Klasse und den Orden Banner der Arbeit).
Uwe Greßmann, Brief an Ludvík Kundera, 25.3.1969
Da mich gegenwärtig die deutsche Dichtung des Mittelalters bewegt, so bitte ich Sie, gewissermaßen als Gesprächsgrundlage, meine dem größten aller Minnesänger gewidmeten Ausführungen in einigen Punkten anzuhören.
Herr Walther auf der Vogelweide
in Anbetracht einer Faust-
aufführung
insbesondere ihres ersten Teils
Herr Walther spricht:
Den Faust den mag ich nicht
Der nicht gewaltiglich sich ballt
Und wie von einem Arbeiter
Erhoben hoch hinausstrebt hoch
Ja über Kopfes Höhe! doch!
Und überhaupt: was solls?
Es heißt: die Faust!
Herr Walther bittet daraufhin
Die Vögelein auf der Weiden
Ästen hin und her zu schreiten
Und den Weg nach einem
Bittern Feld ja Bitterfeld* von Rinden
Blättern zu besingen
Zu bepicken
Da plaudern die Kritiker vom Pressebaum
Mit einigen Schauspielern und Zuschauern
Vom Schildaschen Theater
In Anbetracht einer dort aufgestellten Statue
Doch Herr Walther spricht:
Was solls? Ist es nicht
Stahl des Arbeiters der hier
Vorstellt dieses Raumes Zier
So aufgestellt?
O nein! Der Held
Unserer Betrachtungen ist
Herr von Wolken- oder Winterstein
Denn als ein Schauspieler hob er
Wohl den Becher und sagte Worte
Dieses Dichters
Nicht etwa draus zu trinken;
Aber der den Minnesang beendete
Saß er überhaupt im Parkett?,
Da Herr Walther auf einem Steine
Saß und Bein legte auf Beine
Und sprach: Was solls?
Da klatschten die Zuschauer vom Schildaschen Theater
Zunächst in Anbetracht einer die Faust hebenden Dar-
stellerin Beifall
Inzwischen traten die andern Schauspieler im Foyer auf
Eben um an der Faustdiskussion teilzunehmen dem
Ergebnis jener Aufführung
Und bekamen auch was davon ab ja vom Vorhang
Denn der Beifall dauerte noch ein Weilchen
Und das obwohl die Künstler plauderten
Ja die Kritiker vom Pressebaum baten
Die Zensur der Urteilenden lieber fallenzulassen
Doch was hilfts Herr Walther spricht:
Diesen Faust den mag ich nicht
Doch ihr lieben Vöglein auf der Weiden
Baum Wie schön habt ihr den Weg
Nach einem bittern Feld ja Bitterfeld*
Von Rinden Blättern
Besungen und bepickt!
*) Vielleicht einer der zahlreichen von Herrn Walther besuchten
mittelalterlichen Fürstenhöfe, vorausgesetzt, daß
unser großer Dichter dort auf seinen Wanderungen auch
etwas vortrug, seinen fürstlichen Gönner damit zu erfreuen.
Aus: Uwe Greßmann: Lebenskünstler. Gedichte. Faust. Lebenszeugnisse. Erinnerungen an Greßmann. Herausgegeben von Richard Pietraß. Leipzig: Reclam, 1982, S. 196ff
Robert Schindel
(* 4. April 1944, heute vor 80 Jahren, in Bad Hall in Oberösterreich)
Vorm Hölderlinturm spätmittags
Hölderlin isch it Verrückt worra
Graffiti am Turm
Und rundherum und eingesperrt
Und vertikal und unbewehrt
Und morgenstreifig umgetrieben
Ist er it alleingeblieben
So endet jede Schweigezeit
Schon zu Beginn der Ewigkeit
(Für C.)
it: Schwäbisch für: nicht
Aus: Robert Schindel, Geier sind pünktliche Tiere. Gedichte. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987, S. 97
Anja Utler
(* 24. Juli 1973 in Schwandorf; lebt in Leipzig)
Aus: Es beginnt. Trauerrefrain
Es beginnt der Tag.
Er ließ sich nicht umgehen.
Die Pflanzen stranden
im Licht; reagieren
Es beginnt der Tag.
Tasse geht zu Boden und
der Tee. Auch ich bin
abwaschbar; von innen nicht
Es beginnt der Tag
in Handschuhen, greift nach den
Organen, wiegt sie
alle einzeln in der Hand.
Für das Buch „Es beginnt. Trauerrefrain“ (Edition Korrespondenzen 2023), aus dem diese drei Gedichte stammen, erhält Anja Utler heute in Staufen den Peter-Huchel-Preis für 2023.
Iryna Vikyrchak
(ukrainisch Ірина Вікирчак; * 17. Mai 1988 in Salischtschyky, Oblast Ternopil; lebt in Wrocław)
***
es kann auch alles damit enden
dass nichts von dir bleibt
außer ungeschriebenen Büchern
außer ein paar fremden Versen
der letzte Strohhalm
hunderte Male gehört
erst heute plötzlich verstanden
Zeit ist zäh wie ein Mus aus Schattenmorellen
der innere Kern lebendig und zart
wie der Stiel einer Gladiole
dann, in der allergrößten Not
strömt in die Stille zwischen uns
unverhofft ein Regen
Aus dem Ukrainischen von Jakob Walosczyk, aus: Iryna Vikyrchak: Algometrie – Anthropologie – Amnesie. hochroth Leipzig 2024, S. 26f
***
а може все скінчитись так,
що з тебе нічого не лишиться,
окрім ненаписаних книг
окрім чужого вірша
останньої соломинки,
що чула сотні разів раніше,
але тільки сьогодні раптом збагнула
час густий, як повидло з липневих морелей
внутрішній стержень живий і ламкий
ніби стебло гладіолуса
зненацька, у найпотрібнішу мить
тишу між нами заллє
несподіваний дощ
Tom de Toys
FEIERTAGSATMOSPHÄRE

bevor ich zum eigentlichen thema dieses
textes überleite möchte ich nur kurz darauf
eingehen warum ich mich bei dem titel nicht
für die wörter LAUNE und STIMMUNG
entschied sondern das wesentlich längere
wort "atmosphäre" benutzte um zu betonen
was ein feiertag bei einem arbeitenden
menschen auslöst wenn er endlich einmal
ausschlafen kann und dann bei einer wohl-
duftenden tasse kaffee in seinem lesesessel
am offenen fenster sitzt durch das der ewige
frieden des autofreien vogelgezwitschers
ins aufwachende hirn strömt und eine
angenehme stille spüren lässt die dazu
verführt dem eigenen denken zu lauschen
als sei es ein fließband ohne produkte
in einer geisterfabrik ohne namen inmitten
der unendlichen landschaft ohne horizont
während die kaffeelektüre an langeweile
kaum mehr zu überbieten ist obwohl mich
das thema schon immer eigentlich brennend
interessiert und meine neugier durch den
titel des buches geweckt wurde der aber
am ende das einzige abenteuer darstellt das
mein geist zu bestehen hatte nachdem sich
die buchstabenfelder auf dem dünnen papier
in luft auflösten und mir die leeren seiten
als fächer gegen die feuchte hitze dienten
solange dieses gedicht noch nicht
als ventilator funktioniert //
29.3.2024 ©POEMiE™
@ 86.MPC (Mobile Poetryclip): https://m.youtube.com/watch?v=HxwIvi_Xv44&list=PLWe1oUWFH2ZkheI5qlQv26mmopR8BX4Lm
Am 30. März 1601 starb der Augsburger Meistersinger Johannes Spreng. Geboren wurde er an unbekanntem Datum im Jahr 1524. Aus Anlass des 500. Geburtstages heute ein Stück aus seiner Übersetzung und Nach-Dichtung der Metamorphosen des griechischen Dichters Ovid. Aus den breit erzählenden Hexametern des alten Griechen macht der Meistersinger, der das Dichten zunftmäßig in der Meisterschule gelernt hat und ausübt, deutsche Knittelverse. Ovid kennt keine Kapiteleinteilung. Das gesamte umfangreiche Werk ist in 15 Bücher eingeteilt, die einzelnen Geschichten, die Metamorphosen und Verwandlungen gehen ineinander über. Schon zu Sprengs Zeiten galt das als zu anstrengend, und so kürzt er die Erzählung drastisch und teilt die einzelnen Bücher in kurze Kapitel ein. Diese wiederum bestehen nach Art der damals beliebtem Embleme aus mehreren klar abgesetzten Einzelteilen. Bei Spreng sind es jeweils 5 Teile: 1. eine Überschrift, 2. ein Holzschnitt, der die Handlung verbildlicht, 3. eine Prosaeinleitung, dann 4. das eigentliche Gedicht in paarweise gereimten Knittelversen und noch obendrein 5. eine Moral oder „Außlegung“, ebenfalls in Knittelversen. Offenbar brauchen die Leser didaktisch und dogmatisch aufbereitete Geschichten. Nicht zuletzt weil Ovids Erzählung heidnisch ist und die „Außlegung“ die Kurve zur christlichen Bibel kriegen muß. Ich teile zur Jahrhundertfeier die ersten 4 Teile (also ohne die Auslegung) der neunten Verwandlung (= des 9. Kapitels) des ersten Buches mit. Es ist die Geschichte, die die Bibelleser als Sintflut kennen, bei Spreng heißt es Sündfluß. In der Originalausgabe von 1571 sind das nicht einmal 2 Seiten, wenn man die Grafik abzieht.

NAch dem Jupiter in der Götter beyseyn vnd versamlung sich berahtschlagt / mit was pein oder straff [Strafe] das Menschliche Geschlecht fürnemlich heimzusuchen vnd außzutilgen were / Hat jm endtlich (von wegen deß Lycaonis gewaltthätigen handlungen / auch umb der andern Menschen boßheit willen / die mit jren lastern die Götter selbs anreitzen / vnd vilfeltig versuchen) gefallen / den gantzen Erdboden mit reichlichem vnauffhörlichem wasser zu vbergiessen / vnd alles was darinnen zu versencken / In welchem gewässer alles Menschlich fleisch (außgenommen zwo Personen) ist vnder[ge]gangen.
P. Ouidij [Ovids] Verwandlung /
Weitere Erklärung.
NAch dem in sünden vngerecht
Sich vmbweltzet Menschlich Geschlecht
In das verderben / auch zu hauff
Thet [tät] rennen gar mit vollem lauff
Darneben mutwillig vorab
Weder vmb straff noch warnung gab
Da kam bald vber sie die rach
Deß Jovis [Jupiters] zoren [Zorn] gar anbrach
Sein meinung was [war] der Menschen schar
Mit wasser außzutilgen gar
Vnd diesen seinen raht beysich
Thut er vollziehen schnelligklich
Schickt ein grossen Regen vom Himmel
Zu hauff die Wasser mit gewimmel
Werden oben gegossen auß
Fallen hernider nach der bauß
Schier gantze flüß kommen von oben
Das Meer facht [fängt] an hefftig zu toben /
Laufft vber / thut die Leut erschrecken
Die Flüß das Erdterich [Erdreich, Erderich] bedecken
Die hohe Thüren auch verschwinden
Die Berg man fort nit mehr kan finden
Im Wasser ligen sie versenckt
Durch vngewitter gantz ertrenckt
Es ist nur ein Teil Meer
Tier / Vögel / vnd das Menschlich Heer
Allda gentzlich in grundt verdirbt
Eins jämmerlichen todes stirbt /
Auß den Leuten mannicherley
Sind vberig zwen [zwei] Menschen frey
Das ander alles mit verdriessen
Allda sein leben muss beschliessen
Der große Wasserguß zu mal
Reißt alles hinweg mit vnfall.
P.OVIDII NASONIS.|| Deß sinnreychen || vnd hochverstendigen Posten/|| METAMORPHOSES.|| oder Verwandlung/ mit schönen künst=||lichen Figuren gezieret/ auch kurtzen … || Argumenten vnd Außle=||gungen/ erkläret/ vnd in Teutsche || Reymen gebracht/|| Durch || M.Johan Spreng/ von Augspurg.|| Frankfurt/Main : Rab, Georg, Weigand Han Erben, Feyerabend, Sigmund, 1571, S. 17f – Online Ausgabe: Berlin : Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Germany, 2015 PURL: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001A6D000000000
Thomas Kunst
(Geboren 1965 in Stralsund, lebt in Leipzig)
WENN ICH MAL TOT BIN, LASST MICH BITTE RAUS,
Aus den Gesprächen über Poesie,
So gut wie Ulrich Zieger war ich nie,
Mein Überleben reichte für Applaus.
Das muss doch alles mal ein Ende haben.
Bin ich berauscht vom Glück, sterben Gedichte.
Der Alkohol auf Feldern ist Geschichte.
Die Lichtpunkte sind Rehe oder Raben.
Das Sterben auf den Höfen, Blutergüsse
Vom Zerren an den Bäumen, Brettern, Blumen
Distanz zu wahren, ja, das ist es wohl –
Die Explosionen in der Nacht sind Schüsse.
Die Drinks im Weltall haben mehr Volumen.
Die Sterne sind in ihren Wangen hohl.
Aus: Thomas Kunst, Wü. Gedichte. Berlin: Suhrkamp, 2024, S. 167
Oskar Manigk
(* 29. April 1934 in Berlin)
Der dichtende Maler Oskar Manigk wird am 29.4. 90 Jahre alt.
Er wuchs in Ückeritz auf der Insel Usedom auf. 1993 erhielt er den Caspar-David-Friedrich-Kunstpreis und 2005 den Kulturpreis des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Heute wird er mit dem Egmont-Schaefer-Preis für Zeichnung und einer damit verbundenen Ausstellung in der Berliner Galerie Parterre geehrt. Manigk lebt und arbeitet in Berlin und Ückeritz.
https://mailartists.wordpress.com/updates
Heimat
Sieh, ich kehre wieder heim,
heim zu Opas Flugzeugleim
und zu Mutters Klieben.
Wenn sie nicht gestorben wär
wäre ich geblieben.
Stand ja mal als Zinnsoldat
mitten im Gelände.
Und an Vaters Maschendraht
schien die Welt zu Ende.
Doch sie war zu Ende nicht,
wie wir heute wissen.
Habe doch zum Unterricht
immer drüber müssen.
Nun sind alle Lehrer tot,
tot bis auf den letzten.
Die mich trotz Gewissensnot,
jedes Jahr versetzten.
Liebe Heimat habe Dank,
Dank für deine Güte.
Auf der blauen Gartenbank,
grade als man Kaffee trank,
roch es zehn Sekunden lang
nach Holunderblüte.
Aus „Anwesend“ – ein originalgrafisches Künstlerbuch mit 21 Gedichten und ebenso vielen Grafiken in 50 Exemplaren, Berlin: Wohlrab-Verlag, 2007
Halyna Petrosanyak
(geboren 1969 in den ukrainischen Karpaten, lebt in der Schweiz)
Aus dem Zyklus «Brücke aus Papier. Hebräisches Galizien»
3.
In Stanislau vor dem Krieg
war ich bekannt mit der Tochter des Dr. Horn
der in der Kopernikus-Strasse wohnte
befreundet mit den Kindern des Sulim Sussman
fast verliebt in den jungen Horowitz
besuchte den Gottesdienst das Pastors Zöckler
in der Evangelischen Kirche
in der Knjahynyna-Kolonie
und von meinem Fenster aus lauschte ich des Öfteren
dem göttlichen Gesang des Kantors
der Tempel-Synagoge
Ich habe mir die Vergangenheit in Erinnerung gerufen
aber in der Kopernikus-Strasse steht wahrhaftig
bis heute das Horn-Haus
unweit des jüdischen Friedhofs an der Bahnstrasse
liegt der Grabstein von Sulim Sussman
und das Horowitz-Haus ist bis heute
eine Zierde meiner Stadt
die Steine haben
die Weltordnung
die Leichen überdauert
Mich hält die Hoffnung
dass die Seelen
auch die härtesten Steine
überdauern werden.
Villa Waldberta, 2011
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Alois Woldan, aus: Halyna Petrosanyak, Exophonien. Gedichte. Mit einem Vorwort von Ruth Schweikert. Zürich: alit – Verein Literaturstiftung, 2022, S. 58 (essais agités, Band #8, Reihe Weltenliteratur)
©
Manfred Winkler
(* 27. Oktober 1922 in Putilla, Bukowina, Rumänien; † 12. Juli 2014 in Jerusalem)
Der Krieg ist grausam
Töte nicht ich, so tötest du,
Pardon wird nicht gegeben!
Ich weiß, du liebst die dörfliche Ruh,
du liebst wie ich das Leben
Doch töte nicht ich, so tötest du,
Pardon wird nicht gegeben!
Deckt dich die kalte Erde zu,
vielleicht bleib ich am Leben
Ich weiß, es hat gar keinen Sinn,
im Frieden wären wir Brüder.
Ich zöge vielleicht zu den Deinen hin,
doch jetzt knall ich dich nieder!
Zum Denken hab ich keine Zeit,
es sind nur alte Scherben.
Das Heim ist so unendlich weit,
leb ich, so mußt du sterben!
Ich töte nicht in wildem Haß,
doch schieß ich nicht daneben:
deckt dich die kalte Erde zu,
vielleicht bleib ich am Leben
Aus: Manfred Winkler, Im Schatten des Skorpions. Gesammelte Gedichte. Aachen: Rimbaud, 2006, S. 121
Thorsten Krämer
(* 1971 in Wuppertal, lebt dort)
Diphtongische Bewegung
Ich habe Phonetik studiert
in deinem Mund. Ich weiß, wie du
die Laute produzierst, die
in der Kehle und
die mit den Lippen.
Den Schlenker, den deine
Zunge macht beim Verschleifen
der Vokale, kenne ich
genau. Ich folge ihr von A nach
O, zwischen Dorsum und Gaumen
finde ich vorübergehend
mein Zuhause.
Aus: Thorsten Krämer, Schwankungen der Füllhöhe. Gedichte 1995-2018. ELIF VERLAG, 2020, S. 20
Richard Leising
(* 24. März 1934, heute vor 90 Jahren, in Chemnitz; † 20. Mai 1997 in Berlin)
MEIN FRÜHJAHR
Der erste Krokus, der Goldregen, die
Veteranenstraße, die
Radelt ein junger Mensch
Sitzend! hinauf! Heine zuwinkend! ich kaufe ein
Altes hölzern Gewürzschränkchen und
Ich werde durchleuchtet, ja
Ich bin
Ein Tbc-freier Bestandteil der Hauptstadt, darauf
Einen Korn, ein Bier in der Kneipe
„Pilsator" Brunnenstraße, Neuentdeckung mal
Merken für Detlev, Horst, Klaus, die guten
Freunde die ich habe in diesem Herzen voll
Fröhlicher Kälte
Und dieses Land, in dem ich leben will
Aber muß
Und die mich lustig macht, jene
Diese da, ja
Die.
Aus: Poesiealbum 97. Richard Leising. Hrsg. von Bernd Jentzsch. Berlin (Ost): Neues Leben, 1975, S. 9
Mina Witkojc (deutsch Wilhelmine Wittka; * 28. Mai 1893 in Burg (Spreewald); † 11. November 1975 in Papitz bei Cottbus) war eine bedeutende niedersorbische Dichterin und Publizistin. https://de.wikipedia.org/wiki/Mina_Witkojc
Ich bin nur ein kleines Licht
Ich bin nur ein kleines Licht,
größer bin ich nun mal nicht.
Leuchte nur den Weg zurück,
vorwärts sehe ich kein Stück.
Dunkel folgt mir auf dem Fuß,
mauert seine Wand von Ruß,
rückt mir blindlings auf den Leib,
wenn ich einmal stehenbleib.
Weh! Die Dämmerung begann,
das Entsetzen springt mich an:
Was ich nie vorausgesehn –
bald schon wird es mir geschehn.
Aus dem Niedersorbischen von Kito Lorenc, aus: Kito Lorenc (Hrsg.), Das Meer Die Insel Das Schiff. Sorbische Dichtung von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ins Deutsche übertragen von Kito Lorenc, Albert Wawrik, Róza Domascyna u.a. Mit einem Geleitwort von Peter Handke und einem Nachwort von Christian Prunitsch. Heidelberg: Wunderhorn, 2004, S. 200
Michael Hamburger, der heute vor 100 Jahren in Berlin geboren wurde, entkam den Deutschen rechtzeitig und wurde ein englischer Dichter und Übersetzer.
Michael Hamburger
(* 22. März 1924 in Berlin-Charlottenburg; † 7. Juni 2007 in Middleton, Suffolk, England)
Indivisible
Do the dead know nothing, remember nothing?
The eyes of my dead meet mine
Or, merged in them, look at the oak I planted,
Grown taller than I, and look
Into the living eyes
That were my children's, but now
Into their children's look, seeing themselves
Or, beyond themselves,
Features, lines no horizon frames.
Though with dying eyes I look
At the garden that outgrows me,
At the rooms full of things unfinished,
Things done with, things half-rotten,
Still I must love the breath, flesh, fibre tended,
Growth not for me, the seedling's, and growth ended,
Skeleton left unfelled of the ash-tree that spilled oil
killed -
And shall till the last of the life in me's expended,
While time with its numbers crumbles in my head.
Oh, and the very words, ›living‹, ›dead‹
Belong to a language dead as Latin learned and forgotten
Which, somewhere, still is alive,
Lived in, loved, shaped by a tongue that tastes it -
And the very word ›I‹,
Frame of a half-lie bequeathed me,
Melts in this light, nightfall's or dawn's.
Untrennbar
Wissen Tote nichts, erinnern sie nichts?
Die Augen meiner Toten finden meine
Oder, in sie gemischt, sehen die Eiche, die ich pflanzte,
Mich überragt, und sehen
In die lebendigen Augen
Die meinen Kindern gehörten, die jetzt
Die der eigenen sehen, sich darin sehen
Oder, hinaus über sich,
Zeichnungen, Linien, die kein Horizont rahmt.
Wenn auch mit sterbenden Augen ich sehe
Den Garten, der mir entwächst,
Die Zimmer voll unfertiger Dinge,
Verworfener, halbverdorbener Dinge,
Muß ich sie lieben, meine Zöglinge, aus Atem, Gewebe und
Blut,
Wachstum das nicht mir gilt, eines Sämlings, und Wuchs
der ruht,
Den ungefällten Knochenmann der Esche, die ein Ölfleck
tötete
Und zu lieben bis zuletzt ist mir zumut,
Während Zeit mit ihren Zahlen in meinem Kopf
zerstiebt.
Ach, die Wörter selber, „tot", „lebendig"
Gehören einer toten Sprache wie Latein, erlernt,
vergessen
Die, irgendwo, noch lebt,
Erlebt, geliebt, geformt wird von einer Zunge die sie
schmeckt –
Und sogar das Wort „ich",
Ein mir vererbtes Lügengebäude,
Schmilzt in diesem Spät- oder Frühlicht.
Deutsch von Peter Waterhouse, aus: Jahrbuch der Lyrik 1999/2000, München: Beck, 1999
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