Der Schrei

Heiner Bastian

(* 1943 in Rantau, Kurische Nehrung)

IN JENEM IKONISCHEN BILD eines entsetzten Schreis 
das Edward Munch 1893 unter einem roten Himmel malte
gerät die Sprache, die wir für das Bild suchen, auf einmal in das Reich 
der Unklarheit und wird Gegenstand eines unsinnigen Fabulierens

Ein seltsam umgreifendes Diktum des Erlebens spricht 
und die Möglichkeit einer Illusion all unserer Zeichen erfaßt uns 
als etwas Unbegrenztes außerhalb aller Regeln

Heute Abend wäre es angemessen, ganz und gar zu schweigen 
aber in der Sinnlichkeit des Bildes verwerfen wir diesen Gedanken 
denn wir glauben an die unverbrüchliche Klarheit der Ästhetik 
und doch ist sie nur das Reich der Unverbindlichkeit

Das »Unsagbare«, sagt Ludwig Wittgenstein,
»ist das, was sich zeigt im Sagen des Sagbaren«

Heute Abend treiben die Plejaden die Wolken hin und her 
unter einem roten Himmel ein mystisches Schauspiel ohne Worte

Aber das Bild des entsetzten Schreis ist das Bild einer wahren Empfindung
es ist das Bild einer einzigen Welt, die wir als Sprache haben

Aus: Poesiealbum 376. Heiner Bastian. Auswahl Michael Krüger. Bilder von Cy Twombly. Wilhelmshorst: Märkischer Verlag, 2023, S. 12f

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