Unsere schönsten Lieder

Max Herrmann-Neiße

,(* 23. Mai 1886 in Neiße, Schlesien; † 8. April 1941 in London)

Unsere schönsten Lieder

Wo sind unsere schönsten Lieder geblieben,
die uns blühten, wenn wir sie nicht wollten,
die wir nachts schlaftrunken nicht aufschrieben,
daß ins Dunkel wieder sie entrollten?

Die sich plötzlich in unsre Liebesstunden
hartnäckig hingen und nicht verscheuchen ließen,
später haben wir sie nicht wiedergefunden,
wollten wir sie in einsamer Muße genießen.

Wo mögen sie sein, die schon im Entstehen sterben?
Schweifen sie ruhlos? Führt sie zu kommenden Dichtern,
die sie besser empfangen, ein glückhafter Wind?

Oder müssen sie für ewig verderben?
Leben sie nur noch als Narben in unsern Gesichtern?
Wir aber wissen, daß es unsre schönsten Lieder gewesen sind.

Geschrieben im Dezember 1936 und gedruckt in der „Pariser Tageszeitung“ vom 20.12.1936. Es ist die Bearbeitung eines Gedichts von 1914:

Unsre besten Verse entgleiten uns immer! 

Wo sind eure und meine besten Verse geblieben, 
die uns plötzlich oft kamen, wenn wir sie nicht wollten, 
in schlafnahen Nächten, die wir niemals aufschrieben, 
daß vor dem ersten Erwachen sie immer entrollten?

Die sich mit einem Mal in Liebesstunden 
hartnäckig hingen und nicht verscheuchen ließen, 
aber wenn wir allein sie zu reifern, runden 
Ringen bilden wollen, ins Nichts zerfließen!

Wo sind sie geblieben, die schon im Entstandensein starben? 
Schweifen sie ruhlos und werden späteren Dichtem, 
die sie glückhaft erhalten, schöneres Angebind?

Oder ist es, daß sie für ewig verdarben, 
oder leben sie nur noch als Narben in unsern Gesichtem? 
Wir aber wissen leidvoll, daß es unsre besten Verse gewesen sind!

18. 7. 1914

Aus: Max Herrmann-Neiße: Mir bleibt mein Lied. Gedichte 4. Frankfurt/Main: Zweitausendeins, 1990 (Gesammelte Werke. Gedichte 4), S. 474 u. 532

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..