Dichterhandwerk

EINGANG DES PILATUS (der Sage von Pilatus)
(Straßburger Handschrift)
12. Jahrhundert

Aus: Wilhelm Wackernagel Deutsches Lesebuch. Erster Theil. Altdeutsches Lesebuch. 1859. Unveränd. Nachdruck Essen: Magnus, o.J.

Man sagt von der deutschen Zunge*
Sie sei nicht bezwungen
Sei hart zu fügen.
Wer sie oft schlüge
Dem würde sie schmeidig
Wie Stahl zart und schneidig
Der vom Hammergestoß
Auf dem Amboß
Biegsam springe.
Daß mir’s gelinge
Will ich ausspannen meinen Sinn
Zu einer Rede zu der ich bin
Hingezogen bis jetzt nur schlaff.
Halt ich die Gedanken straff
Bis sie ausgetragen
So weiß ich wohl daß Wagen
Viel mehr wie Mäßigung mache
Bei einer solchen Sache.
Ich greife in den Untergrund
Und stärke meinen Fund
Mit dem Allerersten Sinn
Der drunten und drin
Tief verwurzelt ist.
Hab ich Stetigkeit und Frist
So hol ich aus ihm dem Einen
Mit den Grundsteinen
Die Fülle manchen Sinnes herbei
Daß mir Sinn und Geist die zwei
Wacker bleiben beide
Bis ich vom Werke scheide.**

Aus: Älteste deutsche Dichtungen, übersetzt und herausgegeben von Karl Wolfskehl und Friedrich von der Leyen. Leipzig: Insel, 1920, S. 131ff

 

 

 

 

  • Zunge ist natürlich Sprache. Der Dichter des Pilatus beginnt mit poetologischen Überlegungen. Der Anfang in einer Prosaübersetzung von Max Wilhelm Götzinger 1844: „Man klage über die Widerspenstigkeit der deutschen Zunge, die sich schwer bevogten (beherrschen) lasse. Wenn man sie aber nur recht tüchtig bearbeite, so werde sie schon gelinder, gleich dem Stahle unter den Schlägen auf dem Amboße.“ Sprachs und machte sich ans Werk.

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